© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/02 18. Januar 2002

 
Hier bin ich Mensch
von Doris Neujahr

Endlich, und zwar in der Hauptstadt, sollte die Politik wieder zu ihrem Recht kommen. Nach dem am 16. Juni 2001 in Berlin die Große Koalition gestürzt und ein rot-grüner Übergangssenat gewählt worden war, wurden „Klartext“, ein „Mentalitätswechsel“ und „harte Schnitte“ angekündigt. Die Finanzkrise, Wirtschaftskriminalität, kaputte Turnhallen und marode Kultureinrichtungen schienen eine Re-Politisierung von Wählern, Parteien und Medien erzwungen zu haben. Doch dann geschah das Sensationelle: nämlich gar nichts. Der neue Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) kam, sah und siegte mit einem einzigen Satz, der seine gleichgeschlechtliche Präferenz bekräftigte: „Und das ist auch gut so!“ Der Ausspruch wurde zum Angelpunkt des gesamten Wahlkampfes und mit ihm ein aalglatter, rhetorisch unbegabter Parteifunktionär zum Darling seiner Partei und der Medien.

Dem konnten sich weder Freund noch Feind entziehen. Die NPD setzte ein herzhaftes „Normal statt schwul!“ dagegen. Die Republikaner zeigten auf ihrem Plakat ein leichtbeschürztes Blondchen, das bekundete: „Mein Mann ist Republikaner, und das ist gut so!“ Auch der CDU-Spitzenkandidat rückte zur Begründung seiner Ambitionen sein heterosexuelles Partnerglück - ein kinderloses Steuersparmodell - in den Vordergrund. Als Reaktion darauf plakatierte die SPD ihren Spitzenmann, der einer Frau zulächelte: „Andere werben mit ihren Frauen. Er macht die beste Politik für sie.“

So weit, so inhaltsleer. Niemals zuvor war eine Landtagswahl vom Privat- und Sexualleben seiner Protagonisten derart beeinflußt, ja okkupiert worden. Selbst liberale Kommentatoren, die Wowereits Outing als gesellschaftspolitisches Signal begrüßten, zeigten sich besorgt darüber, daß die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit nun unwiderruflich aufgehoben und der Trivialisierung der Politik Tür und Tor geöffnet worden sei. Und frustrierte Konservative sahen sich von einem aggressiven, durch die „Political cor-rectness“ flankierten schwulen Exhibitionismus erpreßt. Dazu vier Anmerkungen.

Erstens spiegelte der Berliner Wahlkampf die allgemeine Regression des Politischen wider. Die Politiker traten die Flucht vor der eigenen Hilflosigkeit an. Allen ist klar, daß die Stadt bankrott und eine Landespolitik im Wortsinn gar nicht mehr möglich ist, daß der Bund seine Hauptstadt letztlich übernehmen muß. Jeder weiß aber auch, daß ein SPD-Senat den finalen Notruf an die Regierung bis nach den Bundestagswahlen zu verschieben hat, um dem SPD-Finanzminister, dem „Sparkommissar“, keine Schwierigkeiten zu bereiten. Die CDU kann diese Verzögerung nicht einmal thematisieren, ohne daß die Kritik auf sie zurückfiele, weil, als in Bonn ein CSU-Finanzminister die Zuweisungen an die Stadt kappte, Berlins CDU-Senatoren sich ähnlich willfährig verhielten. Allen ist also bewußt gewesen, daß die Neuwahlen, wie immer sie ausgehen würden, der Stadt keine realistische Finanzausstattung bescheren konnten. In dieser Situation wirkte der Wowereit-Satz als rettende und unterhaltsame Eingebung: für die Rotgrünen, für die CDU, aber auch für die Bevölkerung, die von den Politikern regelmäßig „reinen Wein“ verlangt, um sich anschließend über die hohe Rechnung zu beschweren.

Zweitens: Der Wahlkampf wurde von den Gesetzen der Reklame diktiert. Die Kongruenzen zwischen der Produkt- und Politikwerbung sind historisch im parallelen Siegeszug von kapitalistischer Warenproduktion und bürgerlicher Demokratie sowie der gemeinsamen Herkunft aus der Aufklärung begründet. Die Ursprungsidee der Werbung bestand darin, den Käufer/ Wähler über die Eigenschaften, Vorzüge und Risiken der Produkte/ Politiker zu informieren, und ihn in die Lage zu versetzen, eine rationale, seinen Interessen nützliche Entscheidung zu fällen.

Von diesem Anspruch ist wenig übrig geblieben. Einer der Gründe ist die Verdrängung der verbalen Aussage durch das Bild, des sprachlichen Diskurses durch den visuellen Appell. Die Werbung bietet heute Wohlfühl-Bilder, die keine Informationen über das angepriesene Produkt, aber reichlich Aufschluß über die Sehnsüchte des Konsumenten geben. Das Produkt verschwindet hinter dem ihm suggestiv zugeschriebenen Image, das den Selbstwert des Käufers zu steigern verspricht. Im Grunde weiß jeder um das Fiktive des Versprechens, was die Faszination jedoch nicht mindert.

Ab diesem Punkt wirkt die fortgesetzte Parallele zwischen Produkt- und Politikwerbung fatal. Ein privater Fehlkauf läßt sich rasch wieder entsorgen. Eine Fehlentscheidung in der Politik, die die Grundfragen gesellschaftlichen Zusammenlebens erörtert, verhandelt, beschließt und gestaltet, ist von ganz anderer Qualität. Trotzdem findet auch der Wahldiskurs zunehmend über phrasenhafte Slogans und Bilder statt, welche die „Images“ der Kandidaten transportieren. Die SPD mußte 1998 ihr Wahlkampfmotto „Die Kraft des Neuen“ zurückziehen, weil es einer Waschmittelfirma gehörte. Die Befähigung der Politiker wird durch ihr medial vermitteltes - oder inszeniertes - Charisma legitimiert. Eine Neigung des Kopfes, eine Handbewegung, ein signifikanter Hintergrund drücken Kompetenz, Durchsetzungskraft, Weltläufigkeit bzw. Bodenständigkeit aus.

Solche gefühlsbetonte Personalisierung schließt den Zugriff auf das Privat- und Familienleben des Politikers ein. Die Kalkulation ist einfach: Jeder Mensch - also auch der Politiker - ist erst im Kreise seiner Lieben authentisch mit sich selbst. Hier erst kann sein positives Charakterbild abgerundet und vollständig beglaubigt werden. Der von einer wohlgeratenen Familie umkränzte Politiker strahlt Zuverlässigkeit, Verantwortungsgefühl, soziale Kompetenz, mitunter einen soliden Glamour aus. Die anfängliche Irritation darüber, daß eine Errungenschaft des bürgerlichen Zeitalters: die Trennung von Privatleben und öffentlicher Funktion, damit aufgehoben wird, tritt dahinter zurück.

Eine der ersten Politikerfamilien, die sich erfolgreich im Scheinwerferlicht der Mediendemokratie sonnte, waren die Kennedys. Auch Berlins CDU-Spitzenkandidat ließ sich von der Boulevardpresse kurzzeitig als „Kennedy von der Spree“ titulieren. Daß traute Familienbilder keine Wahrheit verbürgen, lehrt die einfache Lebenserfahrung. Kennedy lebte im permanenten Ehebruch, und die angeblich moderne, öffentlich geführte Ehe zwischen Gerhard Schröder und seiner dritten Frau Hiltrud („Hillu“) erwies sich urplötzlich als Luftnummer. Doch wie beim Verbraucher, wird auch das Rezeptionsverhalten der Wähler durch ein nachsichtiges „So möge es sein!“ bestimmt. Zumal Doris Schröder-Köpf ihre Rolle als First Lady und emanzipierte Frau gekonnt meistert. Sie ist blond, aber kein Blondchen und hat neulich sogar ein Buch geschrieben. Als Edmund Stoiber Mitte der neunziger Jahre Theo Waigel aus dem Amt des CSU-Chefs boxte, erwies es sich als hilfreich, daß er Träume bedienen und eine harmonische Familie präsentieren konnte, im Gegensatz zu dem als Ehebrecher und Vater einer unehelichen Tochter überführten Waigel.

Im Kampf um Führungsämter reicht Sachkompetenz also nicht aus, sie muß durch Inszenierungskompetenz ergänzt werden und wird von ihr zunehmend überlagert. In Deutschland hat Helmut Kohl unter Mithilfe willfähriger Journalisten eine raffinierte, hintergründige und zugleich sehr deutsche Form der Politik-Trivialisierung kreiert und durchgesetzt. Kohl verschonte das Publikum mit Familienfotos, dafür machte er die Politik zur Beziehungskiste unter kernigen Männerfreunden. Wenn „Helmut“ die Hand von „François“ grab schte und mit „Boris“ sich in der Sauna fläzte, wurde dem Publikum vorgeflunkert, einen intimen Einblick in die Verfertigung von Politik zu erhalten. In Wirklichkeit setzten diese Bilder den demokratischen Politik-Diskurs außer Kraft und führten eine stark autokratische Dimension in die Politik ein, da sie suggestive Frageverbote etwa nach französischen Absichten beim Maastricht-Vertrag oder der Sicherheit deutscher Rußland-Kredite transportierten. Am Beispiel des lange unterschätzten Helmut Kohl zeigt sich, daß triviale Privatinszenierungen nicht automatisch unpolitisch oder nur Politik-Ersatz sind. Sie können auch Teil einer geschickten Machterhaltungsstrategie sein.

Die Medialisierung der Politik vollzieht sich zeitgleich zu einer eindeutigen Erotisierung der Werbewelt. Ein Großteil der Werbebilder arbeitet mit einer sexuell aufgeladenen Symbolsprache, die vor allem von jungen Menschen schnell, unbefangen und amüsiert entschlüsselt wird. Diese haben andere Leitbilder als die Elterngeneration und sind für familiäre Heile-Welt-Bilder nicht mehr ohne weiteres erreichbar. Sie favorisieren Politiker, die auch über moderne Accessoires wie Emotionalität, Spontanität, Autonomie, über einen gewissen „Lebensstil“ verfügen. Diese Wertverschiebung führt, drittens, zur Frage nach dem Verhältnis von Sexualität und Politik.

Daß die Macht ihre Inhaber häufig mit einem besonderen Eros versieht, ist eine Binsenwahrheit. Der Versuch, persönlichen Sex-Appeal im politischen Raum gezielt zu instrumentalisieren, bleibt indes ambivalent, weil das Publikum ihn hier in Beziehung zu weiteren Eigenschaften, Anforderungen, Überzeugungen und Situationen setzt, was zu unkalkulierbaren Ergebnissen führt. Sex-Appeal kann für Politiker von Vorteil, aber genauso eine Falle und sein Fehlen auch völlig unerheblich sein.

Die charismatische Wirkung Jörg Haiders hat die Schriftstellerin Elfriede Jelinek mit dessen homoerotischer Ausstrahlung auf einen männerbündischen Anhang erklärt. Eben diese Assoziation wirkt auf andere abstoßend. Bill Clinton brachte durch seine pure Anwesenheit die Luft zum Knistern, und Frauen waren seine zuverlässigsten Wähler. Seine virile Aura bescherte ihm andererseits den Ruf des Hallodris und kostete ihn beinahe das Amt. In den Auseinandersetzungen ging es freilich nicht nur um seine sexuellen Eskapaden. Sie waren auch Anlaß für einen Generationenkonflikt und den Kampf um konträre Moralauffassungen und Gesellschaftskonzepte.

Daraus ergibt sich die Frage, ob nicht auch der berühmte Ausspruch, mit dem Klaus Wowereit die Berliner Sachpolitik an den Rand drängte, zumindest eine gesellschaftspolitisch relevante Botschaft enthielt. Die Antwort ist klar: Es ging, viertens, um die gesellschaftliche Akzeptanz der Homosexualität.

Wowereit wurde vorgeworfen, sein Outing sei überflüssig gewesen, die sexuelle Orientierung für die Wähler und das politische Amt ohne Bedeutung. Doch hinterläßt ein Politiker ohne Ehepartner in der Wahlwerbung und der staatlichen Repräsentation eine Leerstelle, die - gerade im Medienzeitalter - erklärungsbedürftig ist. Man kann sie mit Alibi-Partnern und -inszenierungen auffüllen, doch die Differenz zwischen öffentlichem Bild und der privaten Wirklichkeit bleibt nicht verborgen und gibt Raum für Heuchelei, Gerüchte, maliziöse Anspielungen. Der Brandenburger CDU-Vorsitzende Jörg Schönbohm kommentierte Wowereits Auftritt entsprechend doppeldeutig: „Jetzt kann Herr Wowereit ja eine eingetragene Lebensgemeinschaft mit den Grünen eingehen. Die Frage ist, ob die Berliner Wähler das so akzeptieren.“ Da schwang erkennbar die Hoffnung mit, die Berliner würden einen offen schwulen Regierungschef ablehnen.

Eine Annahme, die nur im Rückblick abwegig erscheint. Denn Homosexualität ist in Deutschland erst seit 1969 straffrei. Und ein staatliches Toleranzgebot kann durch die Gesellschaft repressiv vollzogen werden, das heißt: Der inkriminierte Sachverhalt wird zwar hingenommen, jedoch in der eindeutigen Erwartung, daß er nicht öffentlich gemacht oder Rechte daraus abgeleitet werden, und wenn doch, dann um so schlimmer.

Die konservative Perspektive wird bis heute von Arnold Gehlen und Helmut Schelsky bestimmt, die in ihren Werken eine soziologische Wende der Anthropologie vollzogen. Der Mensch ist danach ein instinktgebundenes Wesen, das der Domestizierung durch Normen und Institutionen bedarf, um seine und die Überlebensfähigkeit der Gattung zu sichern. Diese Normen und Institutionen - darunter die Familie - sind von zeitloser Gültigkeit und nicht einfach historische Kategorien. Als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft kann nur gelten, wer „sich der Subjektivität seiner Triebe und Konstitution entzieht“ und „sich der Entfremdung seiner Antriebe ins Institutionelle“ unterwirft. Wer das nicht will oder - wie die Schwulen - nicht kann, verkörpert objektiv eine Subversion und wird vom Verdikt der Asozialität betroffen. Dieses „Normverdikt ist die Feststellung einer Kultur, daß diese Gruppen die in der jeweiligen Kultur angelegten höheren Seinsformen der Person oder der Gesellschaft zu erreichen nicht fähig sind“. (Schelsky)

Das war bis 1969 auch der Standpunkt des Gesetzgebers. Aus dieser historischen Erfahrung - zu der sich das kollektive Trauma von NS-Verfolgung, KZ und Massenmord summiert - folgt ein anhaltendes Gefühl des Rechtfertigungsdrucks, der Minderwertigkeit, der Scham und Schuld. Die kolportierte Gegenfrage an Wowereit, ob der Mehrheits-Sexus denn etwa „nicht so gut“ sei, war deshalb reichlich tückisch. „Gut so!“ hieß einfach: nicht asozial, nicht minderwertig! Und damit basta!

Das haben die Berliner Wähler genauso gesehen. Sie haben Wowereits Outing schließlich in der Wahlkabine mit Gelassenheit bewertet. Diese Gelassenheit war am Ende das fast einzige Politische am gesamten Wahlvorgang.

Wowereits Darling-Bonus hat sich, wie zu erwarten war, inzwischen verbraucht. Er muß nun doch Sachpolitik machen, und Zweifel breiten sich aus, ob er das überhaupt kann. Um die bankrotte Hauptstadt zu regieren, reicht es nicht aus, einfach nur schwul zu sein.

 

Doris Neujahr schrieb zuletzt in JF 2/02 über die Ökonomisierung des Verlagswesens.


 
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