© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/02 18. Januar 2002

 
Versicherungspflicht für jeden notwendig
Sozialpolitik: Das Spannungsfeld Private Krankenversicherung und Solidarität / 4,5 Millionen Beschäftigte im Gesundheitswesen
Jens Jessen

Eine Million Beschäftigte sind in den Praxen der niedergelassenen Ärzte, das sind mehr als irgendein Industriezweig in Deutschland beschäftigt. 4,5 Millionen Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt direkt oder indirekt im Gesundheitswesen. Damit bietet das Gesundheitswesen jedem neunten Arbeitnehmer einen sicheren Arbeitsplatz - 1970 war es nur jeder 22.!

Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat deshalb schon 1998 in seinem Gutachten „Gesundheitswesen in Deutschland - Kostenfaktor und Zukunftsbranche“ betont: „Das Gesundheitswesen stellt einen erheblichen Wirtschafts- und Wachstumssektor in einer Volkswirtschaft dar. Das Gesundheitswesen dient nicht nur der Erhaltung, Wiederherstellung und Förderung der Gesundheit, sondern trägt mit seinen Dienstleistungen zur Volkswirtschaftlichen Wertschöpfung mit den entsprechenden Wirkungen auf den Arbeitsmarkt bei. In anderen Bereichen des Wirtschaftslebens werden steigende Umsätze, Gewinne und Beschäftigungszahlen als Erfolgsmeldung angesehen und kommen in die Schlagzeilen der Medien. Es überrascht daher, daß derartige Entwicklungen im Gesundheitswesen als personalintensiver Dienstleistungsbereich mit einem ausgeprägten Anteil an Hochtechnologie und mittelständischen Industriebetrieben in der Regel als Kostenexplosion und Überangebot wahrgenommen werden. Sie verstärken den Ruf nach Reformen auch dann, wenn sich die Versorgung aufgrund des medizinischen Fortschritts verbessert.“

Jeder Kenner der Materie weiß, daß es im Gesundheitswesen keine „Kostenexplosion“ gegeben hat. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat in dem vom Bundeswirtschaftsminister Müller in Auftrag gegebenen Gutachten „Wirtschaftliche Aspekte der Märkte der Märkte für Gesundheitsdienstleistungen“, das am 6. Dezember in Berlin vorgestellt wurde, das dauernde Gerede von einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen als eine Chimäre entlarvt. Der Anteil der gesamten Ausgaben für das Gesundheitswesen sei, so das DIW, seit 1975 mit 13,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) konstant geblieben. Der Anstieg der Beitragssätze in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) von 10,5 Prozent (1975) auf 13,6 Prozent (Mitte 2001) sei vor allem auf drei Gründe zurückzuführen:

- die erschreckende Entwicklung der Arbeitslosigkeit von 7,3 Prozent im Jahr 1991 bis heute auf rund 11 Prozent

- die Anknüpfung der Versicherungspflicht an die berufliche Stellung als „Arbeitnehmer“ bei zunehmender Flexibilisierung von vertraglichen Beziehungen zwischen Unternehmern und Arbeitskräften ( z.B. „Outsourcing“ und „Scheinselbständigkeit“) sowie

- mehr Halbtagstätige

Dadurch ist die Bemessungsgrundlage für die Beitragszahlungen zur GKV weggebrochen.

Im gleichen Aufwasch fegt das DIW die immer wieder von den Arbeitgebern und den Gewerkschaften - wider besseres Wissen - in Diskussionen benutzte Unwahrheit, die steigenden Beitragssätze in der GKV hätten negative Einflüsse auf Wachstum und Beschäftigung der deutschen Volkswirtschaft. Das ist -so das DIW - nicht der Fall.

Das Problem der GKV sind unzureichende Einnahmen. Damit hat sich das Gutachten in erster Linie befaßt. Für das DIW sorgt nur eine Verknüpfung niedriger Beiträge und guter Versorgungs- und Servicequalität mit einem regulierten Krankenversicherungswettbewerb für eine Verbesserung der Situation. In dem Gutachten werden die einzelnen Ziele genannt, die erfüllt sein müssen, um ein diesen Anforderungen gerecht werdendes Modell zu formulieren. Die verhaltensbedingte Verschwendung auf Seiten der Anbieter und der Nachfrager von Gesundheitsleistungen muß vermieden werden, aber auch ein pauschal wirkender Selbstbehalt bei einer unverschuldeten Krankheit. Das im Alter ansteigende Gesundheitsrisiko hat auf alle Versicherten umgelegt zu werden. In der Konsequenz heißt das aber auch, daß die Folgen der „demographischen Alterung“ der Gesamtbevölkerung durch das Gesamtsystem aufzufangen sind.

Um die sozialen Ziele sowie den Kosten- und Qualitätswettbewerb umsetzen zu können, stellt das DIW in Anlehnung an das Schweizerische Modell einige grundlegende Eckpunkte zur Diskussion:

- Versicherungspflicht für alle Wohnbürger,

- Kontrahierungszwang für alle Versicherungen,

- versicherungsspezifische Kopfbeiträge zur Sicherung des Wettbewerbs zwischen den Versicherungen,

- Verbot der Differenzierung der Beiträge nach Gesundheitsrisiko und entsprechend wirkende Selbstbehalte,

- Aufhebung der Unterscheidung in gesetzliche und private Krankenversicherungen, da es mit den Fortschritten der genetischen Diagnostik immer wahrscheinlicher wird, daß angeborene Risikounterschiede bereits im Zuge pränataler Tests festzustellen sind. Dann kann nur noch eine Sozialversicherung mit Pflichtversicherung und regulierten Prämien die Funktion eines Riskoausgleichs wahrnehmen. Die Beschränkung der Pflichtmitgliedschaft auf nur einen Teil der Bevölkerung ist zu einem Solidarausgleich dann nicht mehr in der Lage.

- Risikostrukturausgleich zur Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen.

Das DIW hat Simulationen für das Jahr 1999 vorgelegt, die deutlich machen, daß die von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) präferierte Erhöhung der Beitragsbemessungsgrundlage der Beiträge zur GKV nicht zu den erhofften Finanzierungswirkungen führt. „Größere Mehreinnahmen (und damit größerer Spielraum für Beitragssenkungen) ergeben sich nur, wenn die Versicherungspflicht für die GKV auf die gesamte Wohnbevölkerung ausgedehnt würde, da dann der Beitragssatz die bislang nicht erfaßten hohen Einkommen der privat Versicherten erfaßt.“

Nach den ersten Kommentaren aus der Politik zeigt sich deutlich: Bismarckscher Mut ist das Letzte, was momentan von deutschen Politikern erwartet werden kann. Wer in Wahlkampf- und Sonntagsreden Solidarität fordert, sollte sie nicht auf die schlechter Verdienenden in unserem Volk begrenzen. Genau das aber tut die Politik mit der Ablehnung der Vorschläge des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.


 
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