© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/02 18. Januar 2002

 
„Aufbruchsstimmung im Volk“
Der CSU-Bundestagsabgeordnete Norbert Geis über die Kanzlerkandidatur Edmund Stoibers und die Strategie der Union
Moritz Schwarz

Herr Geis, die „K-Frage“ hat die Union in den letzten Wochen fast völlig gelähmt. Nun ist klar, daß Edmund Stoiber der Kanzlerkandidat der CDU/ CSU sein wird. Schon liegt er in den Umfragen beinahe gleichauf mit Bundeskanzler Gerhard Schröder. Geht jetzt ein Ruck durch Partei und Fraktion?

Geis: Ich hoffe nicht nur auf einen Ruck in Partei und Fraktion, ich hoffe auf eine neue Aufbruchsstimmung in unserem Volk.

Werden denn die Anhänger Angela Merkels nun auch geschlossen hinter Edmund Stoiber stehen, oder droht ein zweiter Wahlkampf wie 1980, als dem Kandidaten Franz Josef Strauß die nötige Unterstützung aus den eigenen Reihen versagt blieb?

Geis: Die Situation ist nicht vergleichbar mit der Kandidatur von Franz Josef Strauß vor gut zwanzig Jahren. Angela Merkel, die Vorsitzende der CDU, hat Edmund Stoiber aufgefordert zu kandidieren, wir werden also geschlossen in den Wahlkampf gehen. Sicher werden die Anhänger Angela Merkels ihr weiterhin die Treue halten, aber ihre Sympathie bezüglich der Kanzlerkandidatur Edmund Stoiber zukommen lassen. Denn wir alle wollen ja vor allem eines: die rot-grüne Bundesregierung ablösen.

Seinen Feinden gilt Stoiber als „reaktionär“ (Franz Müntefering), wieso sollte es nicht eine solche, vom politischen Gegner getragene, Kampagne geben?

Geis: Natürlich wird der politische Gegner mit solchen Sprüchen unseren Kandidaten angreifen, aber das sind nicht mehr als die üblichen Wahlkampfallüren. Edmund Stoiber ist kein Reaktionär, sondern hat bewiesen, daß er ein modernes Land wie Bayern exzellent führen kann.

Fürchten Sie nicht, das nun das große Jagen und Sammeln von Zitaten beginnt, etwa das von der „durchrassten Gesellschaft“?

Geis: Das hat er als Generalsekretär der CSU gesagt, der er von 1978 bis 1983 war, nicht als Ministerpräsident. Man sollte nicht alles auf die Goldwaage legen, denken Sie doch nur an all die Aussprüche Gerhard Schröders! Hätte man das alles ernst genommen, dürfte der Mann heute nicht Bundeskanzler sein.

Was hat Stoiber damit tatsächlich gemeint?

Geis: Nach meiner Auffassung hat Edmund Stoiber damit gemeint, daß wir nicht allzuviele Ausländer in Deutschland aufnehmen können. Wir wollen in Deutschland Deutsche sein, wie die Franzosen in Frankreich Franzosen sein wollen. Auch wenn er das in einer zugegebenermaßen überspitzten Form geäußert hat, war der Grundgedanke lediglich, laßt Deutschland den Deutschen - doch jeder, der zu uns kommen will, ist uns willkommen, aber wenn er bleiben will, muß er sich integrieren.

Stoiber hat schon früh zu Franz Josef Strauß gehalten, er hat ihn bereits gegen den damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel unterstützt. Gab es eine besondere Beziehung Strauß’zu Stoiber?

Geis: Strauß war eine überragende politische Gestalt. Er war überzeugt davon, daß die Demokratie wehrhaft sein muß, daß der Staat also nicht schwächeln darf, sondern führen muß. Aber Strauß ging es ebenso um die Bewahrung der Freiheit jedes einzelnen, die CSU hat jedwede kollektivistische Tendenz bekämpft. Edmund Stoiber führt diese Lehren Franz Josef Strauß’ fort.

Die Schill-Partei hat in Hamburg klar gemacht, daß mit einem prononciert rechten Profil in Deutschland ganz erhebliche Wahlerfolge zu erzielen sind, wenn dieses nur glaubhaft ist. Wäre es nicht erfolgversprechend, mit dem konservativen Kandidaten Stoiber die durch den grünen Einfluß stark linkslastige rot-grüne Bundesregierung in einer Art Lagerwahlkampf herauszufordern?

Geis: Darauf sollten wir uns nicht einlassen. Entscheidend für diesen Wahlkampf ist vielmehr, daß Deutschland heute das Schlußlicht in puncto Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union ist. Dabei waren wir einmal an der Spitze und haben die EG quasi angetrieben. In den achtziger Jahren hatten wir ein Drittel mehr Bruttosozialprodukt als die anderen Nationen der Gemeinschaft. Heute sind wir Schlußlicht und Bremser, wir sind „spitze“ bei der Arbeitslosigkeit, „spitze“ bei der Verschuldung. Unsere Verschuldung im Jahr 2001 lag bei 2,7 Prozent des Bruttosozialproduktes in Italien zum Beispiel nur bei 1,1 Prozent. Wir müssen raus aus dieser Stagnation, und deshalb brauchen wir einen Ruck durch unser Land. Edmund Stoiber hat das Zeug dazu, die Deutschen mitzu-
reißen.

Voraussetzung dafür ist aber eine Reduzierung der Steuerlast.

Geis: Völlig richtig. Wenn die Hälfte meines Gehaltes an den Staat geht, dann ist das keine Grundlage, um ein Gefühl des Aufbruchs zu erzeugen. Im Moment haben wir Deutschen aber noch die höchste Steuerlast in Europa, deshalb muß die Staatsquote runter. Die Sozialabgaben der Bürger müssen endlich unter vierzig Prozent gesenkt werden, die Steuerlast ebenso.

Wenn Sie einen Lagerwahlkampf ablehnen, wie wollen Sie im Herbst die Bundestagswahl gewinnen?

Geis: In der Mitte, wo sie auch 1998 gewonnen wurde.

Die „neue Mitte“ hält momentan noch Gerhard Schröder besetzt. Welches Profil will Edmund Stoiber entwickeln?

Geis: Schröder wird diese Position nicht halten können, denn er hat sie nie wirklich innegehabt. Gewonnen hat er 1998 lediglich mit der Parole „Sechzehn Jahre sind genug!“, er hat Erneuerung nur vorgetäuscht. Diesmal kann er sich nicht als Erneuerer profilieren, nicht mit dem Resultat, das die rot-grüne Bundesregierung heute vorweisen kann. Und erst recht nicht mit dem rot-roten Bündnis in Berlin.

Stoiber repräsentiert als Rechter innerhalb der Union allerdings nicht unbedingt die Mitte. Wie ist Stoibers Popularität mit ihrer These von der Mitte zu vereinbaren?

Geis: In der Bevölkerung ist insgesamt eine starke konservative Grundströmung vorhanden - das Ergebnis von Hamburg hat das gezeigt. Die Mitte selbst ist in Deutschland bürgerlich-konservativ, Edmund Stoiber ist also viel eher als Gerhard Schröder der repräsentative Vertreter der Mitte. Schröder weiß, wie es um die eigentliche Natur der Mitte in Deutschland bestellt ist, deshalb haben er und Müntefering sie auch immer so heftig umworben. Es ging ihnen stets darum, die Mitte zu usurpieren.

Edmund Stoiber nennt Wirtschaft und Arbeitsplätze als die Themen, mit denen er den Wahlkampf führen möchte. Es wird voraussichtlich zu empfindlichen sozialen Einschnitten kommen. Soziale Kompetenz wird der Union traditionell - Edmund Stoiber wohl im besonderen - eher nicht zugebilligt. Könnte die SPD durch das Schüren sozialer Ängste nicht doch noch unerwartet gegen Stoiber punkten?

Geis: Nein, denn eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik ist die Grundlage jeder soliden Sozialpolitik.

Bezeichnenderweise sprach sich der Chef der CDU-Sozialausschüsse, Hermann Josef Arentz, für Angela Merkel als Kandidatin aus.

Geis: Die CSU hat lediglich einen anderen Ansatzpunkt in der Sozialpolitik: Uns geht es vor allem um die Stärkung der Familie, als der kleinsten Zelle jeder soliden Sozialpolitik. Aber natürlich müssen ebenfalls die sozialen Sicherungssysteme wieder zukunftsfähig gemacht werden, allen voran das Gesundheitssystem, aber auch die Renten. Und gerade dafür ist, wie gesagt, eine gesunde Wirtschaft die Voraussetzung.

Das klingt nach dem üblichen Wahlversprechen, bei dem jedem alles versprochen wird.

Geis: Nein, werfen Sie doch zum Beispiel mal einen Blick auf unser Rentenkonzept. Sie werden feststellen, es ist wirklich hieb- und stichfest. So haben wir etwa den Bevölkerungskoeffizienten mit in die Berechnungen einbezogen. Das sind nicht nur Wahlversprechen.

Das Soziale könnte dennoch die Flanke sein, über die die SPD Stoiber packen will.

Geis: Und damit scheitern wird! Schon deshalb, weil Rot-Grün diesbezüglich auf keine Erfolge in der vergangenen Legislaturperiode verweisen kann. Aber natürlich haben Sie recht, wir müssen uns auf solche Manöver der SPD einstellen.

Stoiber hat Wirtschaft und Arbeitsplätze als Hauptwahlkampfthemen genannt, warum kommt die Zuwanderung nicht vor, obwohl dieses Thema, die Menschen mindestens genauso bewegt.

Geis: Es stimmt, dieses Thema bewegt die Leute tatsächlich ganz außerordentlich, deshalb kann man es auch nicht totschweigen. Die Menschen haben größte Befürchtungen gegenüber weiterer unbegrenzter Zuwanderung. Es ist natürlich wahr, daß es auch in Zukunft Zuwanderung geben wird, aber sie muß begrenzt und die Ängste der Menschen müssen ernst genommen werden.

Weitere Zuwanderung? Wir haben bereits einen offiziellen Ausländeranteil von neun Prozent und in vielen Regionen erhebliche Integrationsprobleme.

Geis: Wir haben in der Tat die Erfahrung machen müssen, daß neben den hier friedlich lebenden Ausländern sich leider viele überhaupt nicht integrieren wollen. Auf die Dauer wird das natürlich zu Konflikten führen und das spüren die Menschen. Deshalb muß die Zuwanderung begrenzt und die Integration verstärkt werden.

Warum wird die Zuwanderung dann nicht ebenfalls zum Hauptthema Stoibers und der Union im Wahlkampf?

Geis: Sie wird ein Thema sein, daß läßt sich gar nicht vermeiden. Das gehört dazu, um Deutschland zukunftsfähig zu machen.

Die Zuwanderung rangiert im Plan der rot-grünen Bundesregierung zur politischen Umgestaltung Deutschlands ganz oben...

Geis: Weniger bei der SPD als bei den Grünen. Die Grünen sind eigentlich die einzige Partei, die Zuwanderung wirklich will.

Und die, um so erstaunlicher, alle anderen Parteien diesbezüglich in die Knie gezwungen hat.

Geis: Nicht die CDU/CSU.

Vor 1998 galt nach Unions-Diktion „Deutschland ist kein Einwanderungsland“. Inzwischen redet die Union unbefangen der - begrenzten - Einwanderung das Wort.

Geis: Es hat zu allen Zeiten Zuwanderung gegeben. Die Position der Union war - und ist es immer noch -, daß wir kein klassisches Einwanderungsland sind.

Zuwanderung bedeutet natürlich Integration. Da stellt sich die Frage: „In was?“ Wie wollen Edmund Stoiber und die CDU/CSU im Wahlkampf von Integration reden, wenn sie sich noch nicht einmal trauen, von Leitkultur zu sprechen?

Geis: Das Wort Leitkultur ist negativ besetzt, deshalb nehme ich es gar nicht erst in den Mund, weil ich damit nicht weiterkomme. In Europa haben wir eine gemeinsame europäische Kultur, unter deren Dach jede Nation ihre eigene Kultur hat. Die Deutschen haben die ihre und wollen sie, wie jedes andere Volk auch, bewahren. Kultur muß sich aber weiterentwickeln, sonst geht sie unter. Allerdings muß sie sich organisch entwickeln, damit es nicht zu einem Kulturbruch kommt. Dafür trägt die Union Sorge.

Aber wie wollen sie diese Integrationskultur durchsetzen , wenn sie noch nicht einmal ihren - in jedem anderen europäischen Land selbstverständlichen - Begriff „Leitkultur“ auch nur zu verteidigen in der Lage waren?

Geis: Wir Deutschen haben bestimmte Wertvorstellungen. Unsere Kultur zu bewahren, bedeutet, diese Vorstellungen auf die ihnen zugrunde liegenden eigentlichen Werte zurückzuführen. Zum Beispiel die Familie, die Würde des Menschen und die individuellen Freiheiten.

Was ist mit der Kultur des Nationalen, wie sie in den klassischen Nationalstaaten, wie Frankreich oder Großbritannien und ganz besonders im Einwanderungsland USA gefordert wird?

Geis: Die Union bekennt sich ja zur deutschen Kultur, allerdings unter dem Dach unserer gemeinsamen europäischen Kultur.

Das ist die Formel der SPD, wie will die Union damit im Wahlkampf gegenüber der Bundesregierung Profil gewinnen?

Geis: Ich denke bei dem Stichwort „Kultur“ an unsere christlich geprägte, abendländische Kultur. Dazu hat die SPD keinen Zugang.

Die große Unbekannte des kommenden Bundestagswahlkampfes ist der Schill-Faktor. Auch wenn Ronald Schill im Moment eine Beteiligung an der Bundestagswahl ausschließt, sollte die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt zum Sturmlauf für die Schill-Partei werden, könnte die Bundestagswahlbeteiligung der Partei eine eigene Dynamik entwickeln.

Geis: Der Sieg Schills in Hamburg ist auf die besonderen Umstände, insbesondere das Versagen der dortigen SPD-Regierung, zurückzuführen. Im Bundestagswahlkampf wird die Partei keine große Chance haben, die Umfragen liegen im Moment lediglich bei drei bis vier Prozent. Wenn Schill sich selbst einen Gefallen tun und der Sache dienen will, wird er nicht antreten, sondern auf die CDU/ CSU verweisen.

Wahrscheinlich werden Stoiber und Schröder Kopf an Kopf liegen. Die Schill-Partei könnte in dieser Situation das Rennen zugunsten Stoibers entscheiden. Muß das nicht auch eine Option im Kalkül der Union sein?

Geis: Da bin ich strikter Anhänger der Strauß-Doktrin: Rechts von uns wird es keine demokratisch-legitimierte Partei geben.

Der Kanzlerkandidat muß bei einem Mitte-Wahlkampf integrieren, statt polarisieren. Wieviel konservatives Profil wird nach diesem Prozeß bei einem Bundeskanzler Edmund Stoiber da noch vorhanden sein?

Geis: Was verstehen Sie unter konservativ? Wenn Sie darunter verstehen, an der Spitze des Fortschritts zu stehen und gleichzeitig die natürlichen Lebensgrundlagen zu sichern, dann ist Stoiber in der Tat ein Konservativer, doch da befindet er sich auch in Übereinstimmung mit der bürgerlichen Mitte. Es gibt also keinen Grund, einen Substanzverlust bei Edmund Stoiber zu befürchten.

 

Norbert Geis geboren 1939 in Großwallstadt (Unterfranken). Nach dem Studium der Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft wurde er Rechtsanwalt in Aschaffenburg.1967 trat Geis in die CSU ein. Von 1981 bis 1986 war er Mitglied des Bayerischen Landtages, seit 1987 gehört er dem Deutschen Bundestag an. Er ist rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion.

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