© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/02 11. Januar 2002

 
Der Euro entscheidet noch nichts
von Björn Schumacher

Der gerade eingeführte Euro sei ein „gewaltiger Schritt“ auf dem Weg zum vereinten Europa, so hören wir immer wieder. Doch welcher Weg das eigentlich sein soll, und auf welche Art von Gemeinschaft man sich einigen soll, bleibt nach wie vor dunkel. Es scheint sogar, als ob die Konzeption immer mehr ihre Unklarheit zeigt. So unterscheidet der vom Außenminister gewollte „Bundesstaat“ sich markant von jener „Föderation von Nationalstaaten“, mit der französische Politiker wie Jacques Delors, Jacques Chirac und Lionel Jospin das europäische „Gesellschaftsmodell“ (Jospin) kennzeichnen. Deren Konzepte zielen auf eine weitgehende Festschreibung des für Frankreich machtpolitisch wie wirtschaftlich vorteilhaften Status Quo ab und sollten im deutschen Sprachgebrauch treffender „Konföderation“ oder in der schöpferischen Terminologie des Bundesverfassungsgerichts „Staatenverbund“ genannt werden.

So eifrig Fischer die Institutionen seines europäischen Bundesstaats und ihre Ausgestaltung entwirft, so blaß und schwach an Argumenten widmet er sich dem Fundament seines Gedankengebäudes: der politischen Rechtfertigung einer föderativen Integration Europas. Von einer halbwegs ausgearbeiteten normativ-wertgeleiteten Theorie kann keine Rede sein. Fischer greift zum Rettungsanker der (nach seinen Worten) „unabweisbaren“ EU-Ost-Erweiterung: „Sie wird eine grundlegende Reform der europäischen Institutionen unverzichtbar machen.“

Sein Gedankengang weist freilich Mängel auf. Zum einen war und ist die Ost-Erweiterung keineswegs so unabweisbar, wie idealistische Paneuropäer es uns seit Jahren predigen. Alternative Wege einer dauerhaften Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und ihren östlichen Nachbarn werden nicht adäquat geprüft, weil sie weniger gut zur Ideologie einer historischen deutschen Bringschuld und zum strikten Shareholder-Konzept einer auf billige Arbeitskräfte und stabile Absatzmärkte in Osteuropa spekulierenden „globalisierten“ Wirtschaft passen. Zum anderen wird die Erweiterung eine vertiefte EU-lntegration allenfalls im normativen Sinne, also in der Theorie, „unverzichtbar“ machen. Ihre praktischen Folgen werden auf das genaue Gegenteil hinauslaufen. Sie dürften - Fischer läßt das besorgt anklingen - in einer gewaltigen Erosion des Projekts Europa enden. Wie will man alte und neue EU-Staaten, die ein vereintes Europa vornehmlich als Freihandelszone und (von Deutschland finanzierten) Reparaturbetrieb für ihre maroden Volkswirtschaften betrachten, ernsthaft in einen europäischen Bundesstaat führen? Außenpolitisches Kalkül mag sich deshalb hinter Fischers Bekenntnis zum Fortbestand beträchtlicher Reste von Nationalstaaten und darauf aufbauend zum Subsidiaritätsprinzip verbergen (was ihm das ultralinke Lager prompt als reaktionäre „Rehabilitierung des Nationalstaats“ übelnahm). Gleichwohl wird sein Konzept dadurch kaum schlüssiger. Überdies setzt es sich drei gewichtigen Gegenargumenten aus.

Das erste bezieht sich auf den immensen finanziellen und administrativen Aufwand, der die Einrichtung einer zusätzlichen vierten Ebene der Staatlichkeit dauerhaft begleiten würde. Selbst Fischers Vorschlag einer vertikalen Personalunion bzw. eines kombinierten Mandats in den jeweiligen nationalen und supranationalen Organen (zum einen in den Parlamenten, zum anderen in den Regierungen), der seinerseits delikate bundesstaatstheoretische Fragen aufwirft, würde dies nicht richtungsweisend ändern. Das zweite gilt den unausweichlichen Demokratiedefiziten der supranationalen Ebene. Bereits die Bevölkerungszahl einer künftig noch erweiterten EU - es geht um annähernd 400 Millionen Menschen - dürfte rationale Prozesse kollektiver demokratischer Willensbildung erschweren. Noch gravierender würden sich Sprachbarrieren und die in Jahrhunderten gewachsenen ethnokulturellen Eigenarten der europäischen Völker auswirken. Eine halbwegs homogene gesamteuropäische „Öffentlichkeit“, wichtigster Träger und Wegbereiter eines wahrhaft demokratischen Diskurses, mag die postnationalistischen Träume des Triumvirats Fischer, Rau und Schröder beflügeln. Realität ist sie ebensowenig wie die in unregelmäßigen Abständen von Europa-Politikern der CDU beschworene supranationale Identität der Völker unseres Kontinents.

Vollends als ideologischer Ballast - dritter Einwand - enthüllen sich die Vorschläge Fischers bei einem Blick auf die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Der kulturelle Identität verbürgende Charakter unseres Nationalstaats dürfte kaum bezweifelt werden. Zudem hat er in seiner Ausprägung als demokratischer Rechts- und Verfassungsstaat ein solches Maß an Effektivität und rechtsethischer Bewährung erreicht, daß jedes supranationale System, das ihn ablösen oder seine Befugnisse substantiell beschneiden möchte, selbst unter günstigsten sprachlich-kulturellen Bedingungen in Rechtfertigungsnot geraten würde.

Welche Mißstände könnte ein „Bundesstaat Europa“ denn effektiver bekämpfen als die ohnehin eng miteinander kooperierenden Nationalstaaten der Gegenwart? Etwa die hohe Arbeitslosigkeit in Teilen des europäischen Binnenmarktes oder die fortschreitende Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen oder gar den weltweit steigenden Migrationsdruck (mit zudem sehr unterschiedlichen Auswirkungen auf die einzelnen EU-Staaten)? Die Erfahrungen mit der Brüsseler Bürokratie und ihrer offenbar noch wachsenden Sehnsucht nach Multikultur - eindrucksvoll belegt durch die jüngsten permissiven Richtlinienvorschläge des portugiesischen EU-Kommissars Vitorino - mahnen zu größter Zurückhaltung.

Einen verfassungsrechtlichen Vorgeschmack auf Fischers Föderation liefert die beim EU-Gipfel in Nizza im Dezember 2000 beschlossene „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“. Deren Präambel beginnt mit der Feststellung: „Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden.“ Bei der jüngsten Deklaration ihrer Grundrechte waren die Völker Europas freilich nicht besonders inspiriert. Einigermaßen kongeniale Ableitungen aus der großartigen Rechts- und Freiheitsidee Kants („Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit gemeinsam vereinigt werden kann.“) gelangen nur partiell und dann meist als Paraphrasierungen des deutschen Grundgesetzes. Zwar begeistern die Autoren der „Grundrechtscharta“ sich unübersehbar für Pathos und Prinzipien der Französischen Revolution: „Freiheit, Gleichheit und Solidarität“. Dennoch atmet die Charta in idealtypischer Ergänzung der vielfach mittelmäßigen EU-Bürokratie den Ungeist kleinkarierter Erbsenzählerei. Die schlimmsten Banalitäten und Platitüden nisten in den Kapiteln „Solidarität“ und „Bürgerrechte“, „Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen“ (Art. 28), Zugang zu „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ (Art. 36), „Recht auf eine gute Verwaltung“ (Art. 41).

Noch diskussionswürdiger ist die Verwendung des Begriffs „Person“ in Art. 2, Abs.1 und Art.3, Abs.1 der neuen europäischen Charta, die im Ergebnis auf eine gravierende Grundrechtsverkürzung hinauslaufen könnte. Die Bestimmungen lauten hier: „Jede Person hat das Recht auf Leben“ (Art.2 ,Abs.1) sowie „Jede Person hat ein Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit“ (Art.3, Abs.1). Demgegenüber heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland viel eindeutiger: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ (Art.2, Abs.2 GG). Der optimistische Leser mag auf den unausweichlicheren Sog feministischer Sprache verweisen. Er könnte beschwichtigend einwenden, der elegante Personbegriff diene der Vermeidung zeitgeistkonformer, pseudoemanzipatorischer Wortungetüme. Andere Deutungen bleiben aber möglich und drängen sich angesichts der Renaissance des Person- bzw. Personalitätsbegriffs in der aktuellen Bioethik geradezu auf. Nicht selten stecken hinter diesem Begriff hinterhältige Versuche, Embryonen und demnächst vielleicht auch Neugeborenen und alten oder kranken Menschen ihr Recht auf Leben abzusprechen. Wirtschaftliche Profiteure und sonstige Befürworter von Abtreibung, schrankenloser Embryonal-Technologie sowie Sterbehilfe basteln sich ganz nach Bedarf ihre philosophisch entleerte Rechtfertigungsideologie.

Überdies lenken Fischers „Visionen“ von aktuellen Ärgernissen wie der Selbstbedienungsmentalität (hauptsächlich auf Kosten des deutschen Steuerzahlers) und den gegenwärtigen Demokratiedefiziten der Europäischen Union ab, die sich um die Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedsstaaten sowie der EU-Organe untereinander gruppieren. Speziell die Demokratieproblematik war auch Gegenstand des letzten EU-Gipfels im Dezember 2000 in Nizza. Kritiker bemängelten danach, der Gipfel habe die Themenbereiche für Mehrheitsentscheidungen im EU-Ministerrat nur unmaßgeblich ausgeweitet. Dieses prima vista „undemokratische“ Versäumnis erweist sich bei verständiger Würdigung als das genaue Gegenteil: gewissermaßen als letzte Verbeugung europapolitischer Oligarchen vor dem Demokratieprinzip. „Mehrheitsentscheidung des EU-Ministerrats“ bedeutet nämlich nichts anderes als die Unterdrückung (nationaler) demokratischer Willensbildung durch einen demokratisch nur schwach legitimierten Beschlußzirkel. Ungeachtet einiger anderer, eher problematischer Gipfelbeschlüsse lautet die tröstliche Botschaft von Nizza: Wir sind noch einmal davongekommen.

Weitere Bestandteile jener Union werden ihre für Deutschland destabilisierende, vielleicht zersetzende Wirkung in den nächsten zehn bis 20 Jahren entfalten. Dazu gehört erstens die unserem Volk mit moralisierender Pose aufgenötigte Einheitswährung Euro: In ihrer Wechselkursschwäche einstweilen noch umsatzsteigernd für weltweit exportierende Großkonzerne, wird die neue Währung günstigstenfalls ein Nullsummenspiel für einheimische Arbeitnehmer, Sparer, mittelständische Unternehmen und im ürigen ein schon jetzt beachtlicher Katalysator der galoppierenden Rohölpreise. Dazu gehört zweitens die mit pflichtschuldigem Eifer vorangetriebene EU-Ost-Erweiterung. Zwar entbehrt die Erweiterung keinesfalls der historischen und politischen Gründe und eröffnet sogar reizvolle Perspektiven für Deutschlands ferne Zukunft. Unter den gegenwärtigen ökonomischen Bedingungen wird sie aber vor allem darauf hinauslaufen, den schleichenden Export deutscher Arbeitsplätze in östliche Billiglohnländer auf ein sicheres europarechtliches Fundament zu stellen und umgekehrt Arbeitskräfte aus eben jenen Ländern ohne Abschiebungsrisiko zu importieren. Dazu gehört drittens der maßgeblich von Joseph Fischer befürwortete EU-Beitritt der Türkei. Dieser würde gleich mehrfach die von Antike, Christentum und philosophischer Aufklärung geformte Wertordnung des Abendlandes konterkarieren, besonders markant im Hinblick auf das Menschenbild und die unveräußerlichen Menschenrechte. Ungeachtet der so beliebten „Übergangsfristen“ - womöglich erkauft mit astronomisch hohen Zahlungen an das EU-Mitglied Spanien? - würde er obendrein eine für die deutschsprachigen Staaten erdrückende Immigrationslawine lostreten.

Fazit: Bleibende Rechtfertigung bezieht der Europa-Gedanke aus seiner friedenstiftenden Kraft. Nach schier endlosen europäischen Antagonismen hat er den Menschen des Alten Kontinents viel Mut und Zuversicht gegeben.

Kaum bestreitbar ist der stimulierende Einfluß europäischer Integration auf die wirtschahfliche Entwicklung der fünfziger und sechziger Jahre. Ob dies auch für den Maastrichter Vertrag und die europäische Währungsunion gilt, erscheint indessen fraglich. Zu beklagen bleiben zumindest der Verlust nationaler Währungshoheit und die Abschaffung der Deutschen Mark ohne Plebiszit. Internationalistische Stammtischparolen („die Einführung des Euro entscheidet über Krieg und Frieden“, „die Abschaffung der D-Mark ist der Preis der Wiedervereinigung“) traten an die Stelle lebendiger Demokratie.

Schärfstes Argument gegen eine fortschreitende europäische Einigung bis hin zur „Brüsseler Republik“, beziehungsweise einem „Bundesstaat Europa“, ist denn auch das Demokratieprinzip. Die gravierenden demokratischen Defizite der Europäischen Union sind keine korrigierbaren Zufallsprodukte, sondern notwendig, d.h. strukturell mit supranationalen Staats- und Gesellschaftsentwürfen verknüpft. Hort der Demokratie ist und bleibt der Nationalstaat.

Verbinden demokratisch fragwürdige Grundmuster sich mit einer schleichenden Erosion des Rechtsstaates, so wird die supranationale Organisation zum idealen, weil willfährigen Partner der global operierenden New Economy, die eine mühsame Konfrontation mit Bürgerinteressen und widerspenstigen Nationalstaaten kaum mehr zu fürchten braucht. Beinahe ironisch mutet es daher an, wenn Lionel Jospin ausgerechnet die Europäische Union zum Bollwerk gegen die Globalisierung schönredet. Außenpolitischer Imperativ der Völker Europas darf keine unablässig fortschreitende Denationalisierung, sondern nur eine behutsame, Frieden und Wohlstand bewahrende Renationalisierung des Alten Kontinents sein.

 

Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist und promovierte über den Rechtsphilosophen und Sozialdemokraten Gustav Radbruch.


 
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