© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/02 11. Januar 2002

 
Klaftertief im Bergwerk
Zerrissenes Leben in der Einsamkeit: Am 15. Januar wäre der Schriftsteller Franz Fühmann 80 Jahre geworden
Ellen Kositza

Im böhmischen Rochlitz als Apothekersohn und zweites von drei Kindern geboren, katholisch getauft auf den Namen Franz Antonia Josef Rudolf Maria, wuchs Fühmann in einer waldigen Tallandschaft auf, dort „wo die Märchen einfach zu Hause sind (...), wo man sich jeden Winter aus Schneemassen herausgraben mußte, wo es Felshöhlen gab und Quellen und Grotten, und da lebte eben Rübezahl, und da gab es eben Gnome und Feen und Gespenster“. Bereits als Kind schrieb Fühmann Gedichte und Erzählungen. Von der Jesuitenschule in Kalksburg bei Wien floh er nach vier Jahren, wurde nach Selbstaussage von diesem Zeitpunkt an „Faschist“, wohnte bereits mit vierzehn Jahren in seinem Schulort Reichenberg, 50 Kilometer vom Elternhaus entfernt.

Noch als Gymnasiast meldete er sich zur SA und hielt nach dem Notabitur als Soldat der Wehrmacht Vorträge wie den über „Das ethische Leitbild des Germanentums“, veröffentlichte ab 1942 Gedichte in Goebbels’ angesehener Zeitschrift Das Reich.

Als Kriegsgefangener in einem lettischen Antifa-Lager gründlich umerzogen - „bevor wir Brot kriegten, kriegten wir eine Kiste mit Büchern“, ansonsten schweigt seine autobiographische Rückschau von dieser Zeit -, wurde er 1949 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und wäre gern der SED beigetreten, wurde aber der NDPD zugewiesen. Ab 1954 arbeitete Fühmann unter dem Decknamen „Salomon“ der Stasi zu, rechtfertigte später mit Vehemenz den Bau der Mauer, reagierte mit einem offenen Brief auf Proteste von Günter Grass und Wolfdietrich Schnurre: „Am Brandenburger Tor und am Potsdamer Platz stehen Panzer. Es sind sozialistische Panzer, und es ist gut, daß sie da stehen. (...) Ich kenne den Unterschied zwischen Panzern und Panzern (...), und es waren die Insassen der roten Panzer gewesen, die mich aus der leiblichen und geistigen Sklaverei der Hitlerwehrmacht befreiten und mich, hinter Stacheldraht, mit der modernen Gesellschaftswissenschaft vertraut machten, ohne deren Kenntnis man hilflos durch den Strudel unverstandenen Geschehens treibt: Mit dem Marxismus-Leninismus, der mich dann auch die schöpferische Freiheit in einem Arbeiter- und Bauernstaat der Narrenfreiheit in einem Staat der Globke, Schröder und Brandt entschieden vorziehen läßt.“

Dieser Fühmann - der Dichter selbst hätte sein Werk, das ist verständlich, gern 1973 mit seiner Erzählung über eine Ungarn-Reise „22 Tage oder Die Hälfte des Lebens“ beginnen lassen - ist schwer erträglich, widerlich bisweilen. Gut und auch heute unbedingt empfehlenswert ist Franz Fühmann in diesen Jahren dort, wo Doktrinäres außen vor bleibt; in seinen nacherzählenden Kinder- und Jugendbüchern über Reineke Fuchs, das Nibelungenlied, über Odysseus, den Fall Trojas und in den Shakespeare-Märchen. Die verzweifelten Reinwaschungsversuche in seinen NS-Verarbeitungs-Erzählungen jedoch, etwa die weinerliche Beschreibung, wie er, in autobiographischer Rückschau („Mein letzter Flug“) als Zehnjähriger rein aus Instinkt ein gerahmtes Hitler-Porträt zertrümmert bis hin zu seiner an Schulen immer noch gern verabreichten Geschichte vom „Judenauto“ (1962), sind literarisch mittelmäßige, durch und durch ideologisch gestimmte Kennzeichen einer Bekenner-Sühnehaltung. Dazu kommen in den Anfangsjahren der DDR ekelerregend devote verbale Kniefälle vor dem DDR-Staatsdichter Johannes R. Becher oder Fühmanns briefliche Bitte an das VEB Bibliographische Institut: „Im vorliegenden Band haben sie freundlicherweise meinen Kollegen ein Adjektiv zugebilligt, etwa wie ’fortschrittl.‘, ’soz.‘ oder ’antifasch.‘. Sollten Sie bei der neuen Auflage ebenso verfahren, dann stelle ich anheim, mir auch ein solches Wörtlein zuzubilligen.“

Distanz zu gewinnen zu sich selbst und der jeweiligen politischen Umgebung, gelang ihm immer erst im Nachhinein, eine Haltung, die als heuchelnden Opportunismus auszulegen bei Fühmann nicht angebracht sein dürfte. In der Vielzahl von Briefen, die er von 1950 bis 1984 mit Freunden und Kollegen, darunter mit Sarah Kirsch, Christa Wolf, Barbara Frischmuth, Anna Seghers, Heinrich Böll, HAP Grieshaber und Margarete Hannsmann wechselte, erscheint sein bald verzweifelt wirkendes Verharren in der Ideologie als kindlich-naive Wahrheitssuche, qualvolle Sehnsucht nach Halt. Fühmann, der mit seiner schlesischen Ehefrau eine Tochter hatte, war ein großer Kinderfreund, im Umgang mit ihnen blühte er auf, unterhielt ernsthafte Brieffreundschaften mit jugendlichen Lesern. Seinen Beruf übte der Schriftsteller in seinem Haus in Märkisch-Buchholz als besessener Arbeiter aus, er arbeitete vom Morgen bis in die Nächte, von Montag bis Sonntag, aß kaum, nur wenig Rohkost, hatte mehrmals Kaffeevergiftungen, sein kurzzeitiger Hang zum Alkohol in den sechziger Jahren erklärt sich ebenfalls durch nervliche Überreizung, die nicht ausbleibt bei mehrstündigem Feilen an einem Satz, dem einzig treffenden Wort.

Unvollendet blieb sein auf 1.000 Seiten angelegter, 1974 begonnener Roman „Das Bergwerk“, ein Projekt, das er gern als sein eigentliches Lebenswerk gesehen hätte - als Bild die Allegorie seines Lebens allemal. An seinem Lebensende - zuletzt schrieb er einem jugendlichen Freund, er stecke „klaftertief im Bergwerk“ - blieb ein gut hundertseitiges Fragment des Buches.

Daß Literatur eben nicht Leben sei, nur „armseliges Artefakt“, war einer der Lebenszweifel des Schriftstellers, er empfand dazu ein „jähes Schuldgefühl“ des Intellektuellen gegenüber körperlich Arbeitenden. Dies freilich traf sich schön mit dem in den Sechzigern vom Staat verordneten „Bitterfelder Weg“, auf dessen Bahnen man - Motto: „Kumpel, greif zur Feder“ - Bauern und Arbeiter zu künstlerischem Schaffen und umgekehrt Künstler zu Abstechern in die Produktion einlud. Bereits 1960 ließ er sich als Arbeiter in der Rostocker Werft anstellen. 1974 schloß er sich, nur anfangs von den Arbeitern dort als „Salonbergbauer“ beargwöhnt, dem „Kombinat Mansfeld“ an, grub sich monatelang unter den Harz und verfällt, wie er sagt, dem Kupferreich. Die Begegnung mit dem Erdinneren wurde ihm zum Urerlebnis, das Dort seine „Landschaft“.

Seine Arbeit am „Bergwerk“ blieb fortan Fühmanns Parallelschaffen zu allen Texten, die er künftig veröffentlichte. Und hier beginnt Fühmanns großartiges Werk, allem voran seine Beschäftigung mit der griechischen Mythologie, seine bilderstrotzenden und sprachgewaltigen Jugendbücher „Prometheus. Die Titanenschlacht“ (1974), „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“ (1978), seine essayistischen und epischen Prosawerke über „Das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann“ (1979), „Das Ohr das Dionysos“ (1985 als Nachlaß erschienen) und sein aufwühlender Essay „Vor Feuerschlünden: Erfahrungen mit Georg Trakls Gedicht“ (1982, im Westen als „Der Sturz des Engels“).

Bereits in den Sechzigern setzte seine Arbeit an Nachdichtungen osteuropäischer Literatur ein, so übertrug er etwa „Der Balkan singt sein wildes Lied“ des Bulgaren Christo Botev ins Deutsche, dichtete ungarische und tschechische Lyrik und Prosa nach. Einen beträchtlichen Teil seines gewaltigen Nachlasses hat Fühmann bis 20 Jahre nach seinem Tod sperren lassen, eine Frist, die in zwei Jahren verstrichen ist.

In den Siebzigern wurde der Schriftsteller, dessen Stasi-Berichte aus früheren Jahren niemals brauchbar waren, selbst zum Beobachtungsobjekt, gehörte 1976 zu den Erstunterzeichnern gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Die praktizierte Staatsdoktrin erschien ihm nun als „dreckiger Sozialismus“, die DDR ein Gebilde, das von „Alkoholikern, Wahnsinnigen oder Grottenolmen regiert“ werde. Eine Restloyalität gegenüber der DDR gab er jedoch nie auf, auch nicht, als ihm, der sich nun verstärkt geistig und körperlich Behinderten zuwandte, die Staatsführung inoffiziell den Charakter eines Geistesschwachen attestierte.

In seinem Garten stand eine Bronzefigur des Dresdner Bildhauers Wieland Förster, sich umarmende Liebende, symbolhaft für die traurige Verlassenheit und das ewige Hoffen des Dichters Fühmann: „Langsam und gegen Widerstände begreife ich ihre tapfere Trostlosigkeit: im unstillbaren Verlangen der Liebenden wie im Wissen des Mannes, daß er auch hier keine andere Erfüllung findet, als sich einen Ewigkeitsaugenblick noch einmal schräg gegen das Weltall zu stemmen.“

In seiner Suche nach Halt, nach Haltung, seiner tiefen Opferbereitschaft gegenüber einer Idee, einer gültigen Ethik, erkannte der Atheist Fühmann, der aufgrund seiner Krankheit zuletzt von einem Stahlkorsett aufrechtgehalten wurde, immer verspätet, daß er verbogenen, falschen Heilslehren aufgesessen war.

Einige seiner beeindruckendsten Erzählungen sind 1978 in dem Band „Der Geliebte der Morgenröte“ erschienen, darin die Erzählung des Silen Marsyas, der in kindlicher Vermessenheit Apollo beim Flötenspiel herausfordert. Dieser Marsyas, dem der Gott die Haut vom lebendigen Leib zieht, da ist Fühmanns Thüringer Schriftstellerkollegin Sigrid Damm („Franz Fühmann war der einsamste Mensch, der mir begegnet ist“) sich sicher, ist eine Metapher für den Dichter, für sein eigenes zerrissenes Leben. Als Franz Fühmann am 8. Juli 1984 starb, hatte der Krebs seinen Körper von innen zerfressen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen