© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/02 04. Januar 2002

 
Orte der Freiheit
Erhöhung über die zeitliche Gewalt: Im Waldgang manifestiert sich der Wille zur Behauptung aus eigener Kraft
Manfred Müller 

Im „Schlußchor“, dem viel zu selten aufgeführten Wiedervereinigungs-Schauspiel von Botho Strauß (1991), steigert sich in der abschließenden Szene die Tochter eines angeblichen Widerstandskämpfers vom 20. Juli 1944 in einen Zustand der Bewußtseinsverwirrung hinein. Ihre letzten Worte: „Wald… Wald… Wald… Wald“. Aus dem Kontext ist dies als Anspielung auf den Mythos vom deutschen Wald zu verstehen.

Spätestens seit der Romantik gewann der deutsche Wald im Bewußtsein der Bildungsschichten deutscher Nation mythischen Charakter. Es entwickelte sich eine Wald-Ideologie, die in der Vorliebe des Durchschnittsdeutschen zu „seinem“ Wald ihre Entsprechung fand. Daß es sich hierbei nicht um Spinnereien von Ästheten und Ideologen handelt, hat der italienische Kulturanthropologe Sergio Dalla Bernadina dargelegt. Er kommt zu dem Ergebnis, daß sich Walddeutung und Waldnutzung bei Italienern und Deutschen auffällig unterscheiden. Der Wiener Volkskundler Reinhard Johler hat dies auf einer Volkskunde-Tagung 1998 aufgegriffen und durch seine Forschungen bestätigt. Die Ergebnisse dieser Tagung sind zusammengefaßt in dem von Albrecht Lehmann und Klaus Schriewer herausgegebenen Sammelband „Der Wald - Ein deutscher Mythos?“ (Dietrich Reimer, Berlin 2000).

Der Romantiker Joseph von Eichendorff gilt bei uns als der Dichter des deutschen Waldes: „Du meiner Lust und Wehen andächt’ger Aufenthalt“. Im Oktober 1810 - Deutschland stand unter der Napoleonischen Fremdherrschaft - schrieb Eichendorff das Gedicht „Der Jäger Abschied“ („Wer hat dich, du schöner Wald“), das in der Vertonung von Mendelssohn-Bartholdy zu einem der berühmtesten Lieder deutscher Männerchöre wurde.

In diesem Gedicht zeigt sich die Politisierung des Wald-Mythos’. Der Wald wird zum Zufluchtsort unbeugsamer Patrioten, hier ist Rückbesinnung auf deutsche Art naheliegend („frommer Sagen Aufenthalt“), hier kann Kraft gesammelt werden für den Aufbruch zum nationalen Freiheitskampf: „Was wir still gelobt im Wald, / Wollen’s draußen ehrlich halten, / Ewig bleiben treu die Alten: / Deutsch Panier, das rauschend wallt…“

Der Wald mit seinen rauschenden Bäumen wird metaphorisch zum deutschen Banner, das dem Befreiungskampf voranweht. Das Gedicht endet mit der Zeile: „Schirm dich Gott, du schöner Wald!“ In den Liederbüchern wurde daraus „du deutscher Wald“ - und so wurde es auch gesungen, ganz im Sinne der gedanklichen Grundlinie, die den Text durchzieht.

Deutsche Romantiker griffen zurück auf die Wälder der germanischen Frühzeit, war Germanien doch für Caesar ein „furchtbares Waldland“, wurde Rom doch von Arminius, dem Befreier Germaniens, in einer großen Waldschlacht besiegt. Manche Gemälde Caspar David Friedrichs deuten in die Richtung des politisierten Wald-Mythos’. Die eher unpolitische Variante ist in den romantisch-biedermeierlichen Waldbildern von Richter, Spitzweg und Schwind zu finden.

Das Bild, das der römische Geschichtsschreiber Tacitus von den Germanen entworfen hatte (kämpferische Waldbewohner, freie Männer, die auf geweihten Waldplätzen ihre Heerführer wählen), wirkte stark auf den ideologisch-politischen Meinungskampf in der Weimarer Republik ein. Wolfgang Kapp, Führer des nach ihm benannten Putsches vom März 1920, warf der Weimarer Demokratie vor: „Du bist ein Zerrbild der einst in deutschen Wäldern geborenen echten Demokratie, die die Führung und Herrschaft nur der Besten über sich anerkannte…“

Der Wald als letztes Refugium der Deutschen unter dem Druck der Siegermächte und der Zwangsordnung von Versailles, so sah es im Mai 1923 ein heute völlig vergessener Julius Bode: „Zornverworren starren wir der finsteren Nacht der Sklaverei entgegen, in die man uns schicken will… Ketten und Kerker sind nichts für die Kinder eines Volkes, das von jeher einen unheimlichen Freiheitsdrang in sich barg… Komm, wir gehen in den Wald, wo die freien, frohen Bäume wachsen“.

Raoul Heinrich Francé (1874-1943), ein früher Vorkämpfer der Ökologie-Bewegung, verfaßte 1927 einen „aus Liebe heraus geschriebenen Führer zum Verständnis des deutschen Waldes“. Sein Buch „Vom deutschen Walde“ leitete er ein mit den Worten: „Wir Menschen von heute, in unserer Seele maßlos zersplittert, haben fast nichts mehr, was uns einigt und uns die Zusammengehörigkeit unseres Volkes empfinden läßt. Nur ganz wenige Dinge gibt es, denen gegenüber wir alle einer Meinung sind, und zu ihnen gehört wenigstens für uns Deutsche der Wald.“

Die Nationalsozialisten griffen dies auf, zum Teil mit Übersteigerungen, so etwa Hermann Göring: „Wir haben uns jetzt daran gewöhnt, das deutsche Volk als ewig zu sehen. Es gibt kein besseres Bild dafür als den Wald, der ewig war und ewig bleiben wird. Ewiger Wald und ewiges Volk, sie gehören zusammen…“ Ab 1937 arbeitete die SS-Lehr- und Forschungsgemeinschaft „Das Ahnenerbe“ an einem breit gefächerten Forschungsprojekt: „Wald und Baum in der arisch-germanischen Kulturgeschichte“.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, daß Elias Canetti, deutschsprachiger Schriftsteller jüdischer Herkunft mit kosmopolitischer Ausrichtung, der Waldliebe der Deutschen eine Deutung ins Militaristisch-Zerstörerische gab: „Das Massensymbol der geeinten deutschen Nation, wie sie sich nach dem französischen Krieg nach 1870/71 bildete, war und blieb das Heer (…) Aber das Heer war mehr als das Heer: Es war der marschierende Wald (…) Heer und Wald waren für den Deutschen, ohne daß er sich darüber im klaren war, auf jede Weise zusammengeflossen. Was anderen am Heer kahl und öde erscheinen mochte, hatte für den Deutschen das Leben und Leuchten des Waldes…“

Ausgestorben ist die Liebe zum Wald in der heutigen deutschen Massengesellschaft nicht. Nirgendwo sonst haben die Angstkampagnen unter dem Stichwort „Waldsterben“ solche zum Teil hysterischen Züge angenommen wie in deutschen Landen. Die Franzosen sprechen spottend von „le waldsterben“. Ist die Liebe zum deutschen Wald aber nach wie vor eine deutsche Eigenart, so wäre zu fragen, ob hier ein Ansatzpunkt für deutsche Konservative und Nationalisten zu finden wäre. Ernst Jünger hat bereits 1951 in seinem Essay „Der Waldgang“ den Rückzug aus den politischen Verwicklungen zur Wahrung oder Wiedergewinnung der persönlichen Freiheit empfohlen.

Die Anspielung auf den deutschen Wald-Mythos bei Botho Strauß 1991 ist mehrdeutig. Er kann sowohl als Absage an die politische Tat verstanden werden wie auch als Ermutigung im Sinne von Eichendorff. Botho Strauß als der große Einzelgänger scheint letzterem nicht zuzuneigen. Kein Anlaß für uns, auf kluges und entschlossenes Handeln für persönliche und nationale Freiheit zu verzichten.

 

Fototext: Waldgang: „Der Widerstand des Waldgängers ist absolut, er kennt keine Neutralität, keinen Pardon …“ (Ernst Jünger)


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen