© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/02 04. Januar 2002

 
Ablösung von Werten
Stammzellenforschung: Die Menschenwürde wird auf der Strecke bleiben
Jens Jessen

Als am 29. November vorigen Jahres der von Bundeskanzler Gerhard Schröder eingesetzte Nationale Ethikrat mit knapper Mehrheit seine Empfehlung für einen zeitlich befristeten Import menschlicher embryonaler Stammzellen nach Deutschland gab, wurde es für die einen hell in unserem Land, für die anderen dunkel. Die Menschenwürde spielte in der heftigen Diskussion über diese Empfehlung eine äußerst wichtige Rolle. Die leidenden Kranken, denen Hoffnung gemacht wird, durch Forschung an Stammzell-Linien Parkinson, Multiple Sklerose oder Diabetes in Zukunft heilen zu können, sehen sich in ihrer Menschenwürde beschädigt, wenn der Import verboten wird. Die Kritiker der Empfehlung sind der Ansicht, daß Menschen selbst im frühesten Stadium der Entwicklung nicht für andere Menschen verfügbar gemacht werden dürfen. Wenn Menschen für den Heilungsprozeß anderer ausgenutzt werden, würde die Menschenwürde des sich entwickelnden Menschen verletzt. Am 30. Januar will der Deutsche Bundestag über den Import embryonaler Stammzellen entscheiden.

Die Rechtsordnung in Deutschland basiert auf der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Sie ist das Fundament der Verfassung. Das Recht auf Leben ist die Voraussetzung und Basis aller anderen Grundrechte. Dieses Recht kann nicht von der Nützlichkeit oder Leistungsfähigkeit des einzelnen Menschen abhängig sein. Ein abgestuftes Lebensrecht läßt sich aus der Verfassung nicht begründen. Für das Bundesverfassungsgericht „liegt die Würde des Menschseins auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen, verbieten sich jegliche Differenzierungen der Schutzverpflichtung mit Blick auf Alter und Entwicklungsstand dieses Lebens.“

Die Orientierung an der gültigen Rechtslage, nach der die Herstellung von Stammzellen zu Forschungszwecken verboten ist, nicht jedoch der Import, ist nur ein Beweis für die schlechte Ausbildung unserer Juristen. Bundespräsident Rau hat in seiner Berliner Rede am 18. Mai unmißverständlich klar gemacht, daß er gegen eine Aufweichung des Embryonenschutz-Gesetzes sei. Auch hochrangige Ziele wissenschaftlicher Forschung dürften nicht darüber bestimmen, ab wann menschliches Leben geschützt werden soll. Für den Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Hubert Markl, ist eine „befruchtete Eizelle noch lange kein Mensch, jedenfalls nicht als eine naturwissenschaftlich begründete Tatsache; allenfalls dann, wenn wir dem Begriff ‚Mensch‘ - und zwar durchaus willkürlich - eine ganz andere Bedeutung zuweisen“. Das jedenfalls hat Markl am 22. Juni 2001 bei der Hauptversammlung seiner Gesellschaft als seine Weltanschauung dargelegt. Als Argument für die Rechtsbeständigkeit seiner Ansicht weist er auf die deutsche Rechtsprechung hin, die eine rechtsfriedliche Regelung von Abtreibungen und die allgemein akzeptierte Verwendung von einnistungshemmenden Mitteln zur Geburtenkontrolle ermöglicht hat.

Professor Wolfgang Frühwald hielt in einem Interview mit der Zeitschrift Forschung & Lehre dagegen. Seiner Ansicht nach geht es um die Auseinandersetzung zwischen einem „christlichen, zumindest kantianischen Menschenbild auf der einen Seite und einem szientistischen, sozialdarwinistischen Menschenbild auf der anderen Seite“. Die experimentelle Wissenschaft schafft laufend neue Fakten, die Grenzen immer weiter verschiebt. Der Eindruck verstärkt sich für den Beobachter mehr und mehr, die Forschungsfreiheit solle als absoluter Wert die Menschenwürde als obersten Wert ablösen. Die Überschrift im Uni Spiegel 6/2001 „Stammzellen aus Embryonen - Rohstoff für die Zukunft?“ bringt das ebenso deutlich zum Ausdruck wie die Behauptung, weil die Gesellschaft die In-vitro-Fertilisation billige und damit „überflüssige“ Embryonen in Kauf nehme, dürfe jetzt auch an ihnen geforscht werden. Das ist die Instrumentalisierung des Menschen für fremde Zwecke, die gegen die Menschenwürde verstößt. Entlarvend ist sicher die Ansicht des Bonner Neuropathologen Oliver Brüstle in einem Interview, das ebenfalls im Uni Spiegel veröffentlicht wurde. Menschliche embryonale Stammzellen sollten zur Forschung verwandt werden, „weil sie die Möglichkeit bieten, Ersatzzellen für unterschiedliche Organe quasi in Zellkultur herzustellen. (…) Es gibt in einigen Ländern schon jetzt Forschergruppen, die Spenderzellen aus humanen Zellen gewonnen haben. Ich sehe die große Gefahr, daß wir im internationalen Wettbewerb in einen Rückstand geraten.“

Das Festbeißen an der verbrauchenden Embryonenforschung hat in der Öffentlichkeit völlig den Blick für Alternativen versperrt. Eine ethisch vertretbare Alternative ist die Forschung mit adulten Stammzellen, d.h. mit den Stammzellen, die im Körper von Kindern oder Erwachsenen sind. Diese Zellen haben die Fähigkeit, sich zu anderen Zelltypen auszudifferenzieren. Eine andere Möglichkeit ist die Forschung mit Stammzellen aus dem Nabelschnurblut. Der fundamentale Unterschied zwischen embryonaler und adulter Stammzellenforschung: Forschung an embryonalen Stammzellen bedeutet die Tötung von Embryonen. Das Unethische daran ist, daß Forscher menschliche Embryonen schaffen wollen, um sie später zu vernichten.

Die Meinungen prallen aufeinander. Ein Ende ist abzusehen. Die Menschenwürde wird auf der Strecke bleiben, da sie in diesem Land schon lange eine Phrase ist. Wie kann man Menschenwürde für die Embryonen in vitro fordern, wenn Jahr für Jahr 150.000 bis 200.000 Abbrüche in vivo zugelassen werden?


 
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