© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/02 04. Januar 2002

 
Pankraz,
Arnold Gehlen und die duftende Briefmarke

Das neue Jahr begann anmutig: Es kam ein Brief von einem Freund aus Brasilien, mit einer Briefmarke drauf, die intensiv nach frischem Bohnenkaffee duftete. Pankraz hielt das zunächst für einen Zufall; vielleicht hatte das Kuvert beim Europaflug direkt neben einem Kaffeesack gelegen. Dann aber mußte er sich belehren lassen: Alle brasilianischen Briefmarken duften neuerdings nach Bohnenkaffe, es ist eine Anordnung des dortigen Verkehrsministeriums. Den Marken wird schon in der Druckerei der Kaffeeduft künstlich eingedrückt.

Und nicht genug damit: Es gibt in Brasilien auch Briefmarken mit anderweitigen Kunstgerüchen. So roch die vorletzte Edition nach verbranntem Holz; die Regierung wollte damit gegen die flächendeckenden Waldrodungen der Holzspekulanten protestieren. Die „Holzbrandmarke“ war aber kein Erfolg, erstens weil brennendes Holz nicht so gut riecht wie gerösteter Kaffee und zweitens weil die meisten Käufer gar nicht wußten, wie brennendes Holz überhaupt riecht. Es kommt da offenbar darauf an, um welche Holzsorte es sich handelt. Brennende Akazien riechen anders als brennende Kokospalmen, brennende Zypressen anders als brennende Lorbeerbäume. Die Kunden konnten mit den Düften keine genaue Identität verbinden.

Trotzdem war der Einfall originell und bemerkenswert, wenn auch riskant. Denn auch die Brasilianer sind ja Menschen, und das heißt: Es sind Säugetiere, die fast nichts mehr riechen, die mit Düften, sofern sie sie wahrnehmen, meistens nur noch peinliche oder sonstwie unangenehme Assoziationen verbinden und darauf mit Ablehnung reagieren, im Falle der Briefmarken also mit Kaufverweigerung. Die Postdirektion geriet durch die Holzbrandmarken in die Bredouille, die Ausgabe der jetzigen Bohnenkaffeemarken ist als Wiedergutmachung gedacht, als Versuch der Wiederherstellung verlorenen Prestiges. Es soll, hört man, keine Fortsetzung der duftenden Briefmarken in Brasilien geben.

Wahrnehmungsphysiologen und Tierfreunde werden das bedauern, hätten die duftenden Marken doch ständigen Anlaß gegeben, über eines der größten Rätsel der Evolution nachzusinnen, nämlich darüber, warum der Mensch einen so gewaltigen Verlust an Weltwahrnehmungsfähigkeit erlitten hat, wie es das faktische Abhandenkommen des Geruchssinns ja mit Sicherheit war. Gesicht und Gehör in allen Ehren - aber weder Konturen noch Farben noch Töne können auch nur im entferntesten eine solche Fülle und komplexe Dichte von Welteindrücken vermitteln wie der Geruch.

Unsere nächsten Verwandten im Tierreich, Hunde, Katzen, Murmeltiere, im Grunde sämtliche höheren Säugetiere, leben nicht vorrangig in Seh- und Hörwelten, sondern in Duftwelten. Ein Duft sagt ihnen nicht nur über die äußere Gestalt und Beschaffenheit der Phänomene und Mitgeschöpfe viel, sondern auch und vor allem über ihre innere Verfassung. Ein höheres Säugetier riecht bei seinem Gegenüber auf Anhieb, ob er Angst hat oder tapfer ist, was sich in seinem Magen- und Darminneren befindet, was er also vor kurzem zu sich genommen hat, ob er liebesbereit ist, ob er gut geschlafen hat, wo er herkommt, ja, wo er hinzugehen beabsichtigt und ob er eine reelle Chance hat, auch tatsächlich dorthin zu gelangen. Alle diese Fähigkeiten haben wir Menschen durch die Reduzierung unseres Geruchssinns verloren.

Als der Philosoph Arnold Gehlen den Menschen als ein habituelles „Mängelwesen“ definierte, das seine Sinnesnachteile unbedingt, um des nackten Überlebens willen, durch stürmische Entwicklung seiner Großhirnrinde „kompensieren“ mußte, wird er wohl vor allem an den Geruchssinn gedacht haben. Denn der Geruchssinn ist nicht zuletzt der prophetische Sinn, der in die Zukunft hinausspürt, der seinem Inhaber mitteilt, was demnächst passieren wird und wie er sich am besten darauf einstellen kann. (Stink-)Füchse und (Stink-)Marder sind die allerbesten Futuristen, sie wittern ökonomische, freßhaltige Daten genauer voraus als jeder moderne Wirtschaftsweise, und sie reden dabei auch nichts schön oder einem Mächtigen nach dem Mund.

Verfügten wir Menschen außer über unser Denk- und Schlußvermögen auch noch über jenen scharfen Geruchssinn, den unsere Ahnen einst gehabt haben - wir wären wirklich die Herren der Welt, könnten sie durchdringen, ohne sie dabei zu verheeren und häßlich zu machen. Die Witterung würde uns von vornherein darüber belehren, wo etwas faul ist und wovon wir die Finger zu lassen hätten. Augentäuschungen gibt es zuhauf, und so mancher ätherische Ton bezaubert uns und führt uns auf falsche Fährte. Aber der Geruch (zumindest in der industriell unverfälschten Natur) täuscht niemals, und er verführt auch nicht durch Lyrik. Er ist der platteste, unpoetischste Sinn, den es gibt.

Eben dies mag nun freilich auch sein Nachteil in den Augen delikater Gehirntiere sein. Die Duftmarken, die die höheren Tiere setzen, sind keine Bohnenkaffeemarken und sind schlimmer noch als Holzbrandmarken, sie entstammen in der Regel irgendwelchen rückwärtigen Drüsen, haben sich mit den Verdauungs- und Abführorganen verschwistert, wenn sie nicht selber der organische Abfall sind, der, nachdem er seine Dienste als Speiselieferant getan hat, praktischerweise gleich noch als Informationslieferant eingesetzt wird. Das ist ökonomisch, verletzt aber unseren evaluierten Begriff von Information empfindlich. Wir vermehren uns zwar mittels der Abführorgane, aber informieren möchten wir uns mit ihrer Hilfe nicht.

Insofern war die Duftmarke aus Brasilien doch ein arger Fauxpas und ein Verstoß gegen die Gattungsmoral. Andererseits muß man den Ministerialdirigenten, die sich das ausgedacht haben, dankbar sein. Ihr Einfall könnte Schleusen der Kreativität öffnen. Wie wäre es denn mit der singenden Briefmarke, die beim Aufschlitzen des Kuverts „God save the Queen“ oder dergleichen anstimmt? Der Phantasie sind wieder einmal keine Grenzen gesetzt.


 
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