© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/02 04. Januar 2002

 
BLICK NACH OSTEN
Mit Erpressung und Zauberkunst
Carl Gustaf Ströhm

Die Ehe gleiche einem überfüllten Autobus: Jene, die draußen sind, wollten unbedingt hinein - und jene, die drinnen sind, drängten hinaus, und an der Tür gebe es Stauungen.

Dieser Ausspruch stammt angeblich von George Bernard Shaw. Er könnte aber auch auf die EU zutreffen. Auch die jüngsten „Harmonieübungen“ im belgischen Laeken täuschen nicht darüber hinweg, daß von innerer Geschlossenheit der Mitgliedsländer keine Rede sein kann. Das zeigt sich bis in personelle Kleinigkeiten: So benutzten die Briten eine kurze Abwesenheit von Bundesaußenminister Fischer am Verhandlungstisch dazu, um dem Österreicher Erhard Busek - den Berlin partout nicht haben wollte - als EU-„Koordinator für den Stabilitätspakt“ durchzudrücken (siehe Seite 3).

Aber auch in Mittel- und Osteuropa gerät die EU zunehmend in Turbulenzen. Ein weiterer EU-„Koordinator“ (über die Notwendigkeit all dieser Koordinatoren und Koordinaten kann man geteilter Meinung sein), Javier Solana, stieß neulich bei den Montenegrinern auf Zorn und Ablehnung. Der Spanier hatte die Führung der Republik Montenegro brüsk aufgefordert, auf die angestrebte Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit zu verzichten, weil die EU der Meinung sei, die jugoslawische Föderation - also die Vollmacht Serbiens - solle bestehenbleiben.

Er drohte der Führung der Republik Montenegro sogar, im Falle der Unabhängigkeitserklärung von Belgrad werde man den neuen Staat nicht in die EU aufnehmen. Wem fällt da der Begriff „Erpressung“ ein? Und wer wagt es, festzustellen, daß das demokratische Europa mit solchen Methoden eines seiner Grundprinzipien - nämlich das Recht auf Selbstbestimmung, außer Kraft setzt?

Der tschechische Parlamentspräsident und Chef der Bürgerpartei, Václav Klaus - ein oft eigenwilliger, aber intelligenter Politiker (und, nota bene, alles andere als ein „Linker“), sagte neulich, die Tschechische Republik werde nach einem Beitritt in der EU „verschwinden, wie Zucker im Kaffee“. Klaus, von dem es heißt, er habe gute Chancen, wieder Regierungschef in Prag zu werden, spricht damit die hintergründige Sorge vieler Tschechen an, die ahnen, daß es mit der 1989 in der samtenen Revolution erstrittenen Unabhängigkeit ihres Landes bald wieder vorbei sein könnte - weil dann, nachdem man ein halbes Jahrhundert kommunistisch-sowjetischer Fremdbestimmung überwunden glaubte, plötzlich wieder eine „fremde Macht“ - nämlich Brüssel - das Zepter über Böhmen und Mähren schwingen wird.

Ähnliche Unzufriedenheit staut sich in Ungarn auf. Budapest fürchtet, trotz seiner positiven Daten und der Erfüllung der meisten Brüsseler Aufnahmebedingungen zurückgestuft zu werden. In Brüssel will man offenbar nach dem Geleitzug-Prinzip verfahren und die „stärkeren“ Kandidaten gemeinsam mit den „schwächeren“ aufnehmen. Das heißt: Die Ungarn müssen warten, bis auch die Schwächsten soweit sind. Das bedeutet enormen Zeit- und Geldverlust und faktisch eine Bestrafung desjenigen, der sich die meiste Mühe gegeben hat.

Der neueste Vorschlag Frankreichs, alle EU-Kandidaten auf einmal aufzunehmen, wird nicht nur in Budapest als Zauberkunststück angesehen, mit dem Frankreich die Aufnahme lästiger Agrarkonkurrenten (Ungarn ist hier ein klassisches Beispiel) hinauszögern wolle. Vielleicht manifestiert sich auch Pariser Unbehagen gegenüber einer befürchteten „deutschen Führungsrolle“ in einem erweiterten Europa.


 
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