© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/02 04. Januar 2002

 
„Die Geschichte unserer Väter“
Der Filmproduzent Bastian Clevé über die Neuverfilmung des Romans „So weit die Füße tragen“ und deutsche Vergangenheit
Moritz Schwarz

Herr Clevé, Sie sind Drehbuchautor und CoProduzent der Neuverfilmung des Bestsellerromans „So weit die Füße tragen“, die seit dem 27. Dezember in den deutschen Kinos läuft. Der Film erzählt das Schicksal eines deutschen Offiziers in sowjetischer Gefangenschaft, in einem Lager auf der Halbinsel Tschuktschen, dem östlichsten Zipfel Sibiriens...

Clevé: ... und seiner unglaublichen, dreieinhalb Jahre dauernden Flucht zu Fuß durch die Sowjetunion bis nach Persien, von wo
er endlich nach Deutschland entkommen kann. Die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit, auch wenn der deutsche Soldat in Wirklichkeit nicht Clemens Forell hieß, wie später im Roman und bei uns im Film.

Wie kamen Sie über fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges auf dieses Thema?

Clevé: Eines Tages kam mir der Romantitel „So weit die Füße tragen“ wieder in den Sinn. Ich erinnerte mich der Stimmung bei uns im Wohnzimmer, als Ende der fünfziger Jahre die Bearbeitung fürs Fernsehen ausgestrahlt wurde und die Straßen wie leergefegt waren, weil alle Menschen in Deutschland vor dem Fernseher saßen. Ich begann mich für die Geschichte zu interessieren und stellte dabei fest, daß der Roman heute noch ein Bestseller ist. Schließlich erwarb ich die Filmrechte an dem Buch.

Was faszinierte Sie so, die Abenteurgeschichte oder der historische Gehalt?

Clevé: Zum einen gefiel mir das epische Format des Stoffes und die humanistische Aussage der Geschichte, die sich ideal paarte mit den für tolles Kino notwendigen Action- und Abenteuerelementen. Zum anderen aber empfand ich es einfach als an der Zeit, daß dieses Thema mal wieder angepackt wird: Denn daß ein deutscher Soldat durch das, was er tut, zum Helden wird, ist natürlich ungewöhnlich im deutschen Kino. In den siebziger Jahren wäre das noch undenkbar gewesen und in den Achtzigern und Neunzigern interessierte man sich schlicht nicht dafür. Nun aber steht die Erlebnisgeneration davor, endgültig auszusterben, jetzt ist die letzte Gelegenheit, von Zeitzeugen noch etwas zu erfahren, und ich glaube, deshalb wächst derzeit das Interesse wieder. Solche Themen waren lange Zeit unter dem Teppich. Derzeit kommen sie wieder, denken Sie etwa an die großen Fernsehserien zur Vertreibung in ARD und ZDF in diesem Jahr. Ich finde, die Zeit ist einfach reif, daß dieser Teil der deutschen Geschichte wieder zum Thema wird.

Die Kinoerfolge der letzten Jahre, die sich mit dieser Epoche beschäftigten, und die auch das Interesse Jugendlicher fanden, waren Streifen wie „Schindlers Liste“ oder „Der Soldat James Ryan“. Filme, die - und das obwohl Oscar Schindler Deutscher war - sich überhaupt nicht für die deutsche Perspektive interessieren.

Clevé: Ich glaube, daß genau darin das Potential für Filme mit der eigenen, der deutschen Sichtweise liegt: Wenn etwas dreißig Jahre nicht ausgesprochen werden darf, entwickelt es eine Dynamik. Gerade nun, nach den von Ihnen genannten Filmen, gibt es das Bedürfnis nach der anderen Perspektive. Daß wir das ernst meinen, zeigt zum Beispiel auch, daß wir uns nicht dafür entschieden haben, in Englisch zu drehen und international zu besetzen, sondern konsequent einen deutschen Film gemacht haben. Es ist einfach ein deutscher Stoff - die Geschichte ist ja sogar im Haus der Geschichte in Bonn ausgestellt.

Wer ist Ihre Zielgruppe?

Clevé: Wir haben drei Zielgruppen: Erstens den normalen Kinogänger, der einen gutgemachten und spannenden Film sehen möchte. Zweitens die Erlebnisgeneration und deren Kinder, also Menschen in meinem Alter, die in dem geschichtlichen Thema ein Stück eigene Geschichte oder die ihrer Generation wiederentdecken können. Diese Menschen gehen zwar eher selten ins Kino, aber das liegt nicht an den Leuten, sondern daran, daß es für diese Zuschauer im Kino von heute meist nichts zu sehen gibt. Drittens zielen wir natürlich auf den Schulbereich, denn der Film - freigegeben ab zwölf - bietet mit seinem historischen und ethischen Gehalt genug Stoff, um für den Unterricht interessant zu sein.

Die öffentlichen Bildungseinrichtungen befleißigen sich heutzutage bevorzugt einer Themenauswahl, die die Deutschen lediglich als Täter darstellt und aus der „antifaschistische“ Lehren gezogen werden können. Befürchten Sie bezüglich der dritten Zielgruppe nicht ein Scheitern bei den Lehrern?

Clevé: Da habe ich keine Bedenken, schließlich ist unser Film nicht revanchistisch. Forell kann nur deshalb fliehen, weil ihm immer wieder auch von Russen geholfen wird. Der Film ist durchaus völkerverbindend. Und da er mit der Geschichte des eigenen Landes der Schüler verbunden ist, kann die Botschaft auch um so konkreter wirken.

Sie sprachen von den „normalen Kinogängern“, haben denn die Jugendlichen heute überhaupt noch genug zeitgeschichtliches Interesse für Ihren Film?

Clevé: Sie gewinnen wir über die Qualitäten des Streifens als packendem Abenteuerfilm, aber ich glaube tatsächlich, daß viele junge Leute bereit sind, sich auch einmal auf ein für sie fremdes Thema einzulassen, Interesse zu entwickeln und schließlich vielleicht auch zu Hause zu fragen, wie das bei ihnen in der Familie war.

Ernste historische Filme haben es in aller Regel schwer.

Clevé: Es ist ein sehr emotionaler Film - dadurch unterscheidet er sich von den meisten anderen deutschen Filmen, die zur Zeit produziert werden -, und solche Filme tragen sich selbst. Sie können also auch ohne eine aktuelle Stimmung in der Öffentlichkeit bestehen. Das ist weniger eine Frage des Themas, als der Qualität des Films - und da bin ich zuversichtlich.

Das Emotionale an Ihrem Film ist die Heimat als Ziel Forells. Derzeit auch kein sonderlich angesagter Begriff in Deutschland.

Clevé: Sicher wird Forell von dem Wunsch getrieben, nach Hause und zu Frau und Kind zurückzukehren. Aber dieser Wunsch ist in unserer Geschichte ja ein ganz existenzielles Bedürfnis, dahinter steht der Wunsch zu überleben. Ich glaube also nicht, daß wir uns Sorgen machen müssen, das Thema würde als altbacken abgelehnt werden.

Bereits der erste Film Ihres Regisseurs, Hardy Martins „Cascadeur - Die Jagd nach dem Bernsteinzimmer“ , hat Actionfilm und historische Motive aus der deutschen Geschichte verquickt. Nun verbindet „So weit die Füße tragen“ ebenfalls Geschichte und Abenteuer. Halten Sie das für ein Rezept, mit dem eine Marktlücke in Deutschland gefüllt werden kann?

Clevé: Wenn dieser Film gelingt und ich die Möglichkeit bekomme, einen weiteren zu machen, werde ich mich der Katastrophe Ostpreußens und der Versenkung der Wilhelm Gustloff widmen. Angeregt durch das Schreiben der Drehbuchentwürfe für „So weit die Füße tragen“ habe ich mich gefragt, welche Vorgeschichte Forell eigentlich hat. Dadurch ist mir der Untergang Ostpreußens, die Flucht über die Ostsee und die Tragödie der Gustloff erstmals richtig bewußt geworden. Das ist ein großer Stoff und ein heißes Eisen.

Sie meinen ein Tabu?

Clevé: Ja, die ganze Ostgebiete-Thematik ist irgendwie immer noch tabuisiert. Ich habe bereits Überlebende der Gustloff ausfindig gemacht und interviewt: Ganz erschütternd! Man kann nicht so tun, als sei da niemals etwas gewesen. Es gibt bis heute Millionen von Schicksalen, die unerzählt geblieben sind. Es geht darum, mit einem solchen Film dem persönlichen Schicksal so vieler Menschen gerecht zu werden.

Solche Filme sind in Deutschland bislang meist nur möglich gewesen, weil sie extrem moralisierend oder ironisierend waren.

Clevé: „So weit die Füße tragen“ ist so ausgewogen, daß wir auf jede Form von moralischer Rechtfertigung verzichten können. Der Film funktioniert ähnlich wie „Das Boot“, er besteht durch seine eigene moralische Kraft, zeigt die Menschen, ihr Schicksal und ihren Leidensweg.

Aber auch „Das Boot“ transportiert noch die politische Botschaft, „Schuld ist dieser verfluchte Krieg“, während Ihr Spielfilm sich ganz auf das persönliche Schicksal konzentriert.

Clevé: Natürlich ist auch Clemens Forell durch den Krieg in diese verzweifelte Lage gekommen, aber Sie haben recht, darum geht es nicht. Es ist die Geschichte dieses Soldaten, und zwar in gewisser Weise stellvertretend für Millionen von Vätern, Söhnen und Ehemännern, die damals nach Sibirien verschleppt wurden und oftmals nicht mehr heimkamen. Der Film spricht ein geschichtliches Thema als ein nationales Thema an - als ein Thema, das alle angeht, weil es das Schicksal unserer Väter und der zu Hause ausharrenden Mütter ist und Ereignisse behandelt, die die Verhältnisse, in denen wir alle aufgewachsen sind, gepräg haben.

Also ein nationaler Film?

Clevé: So würde man das im Ausland wohl nennen. Deshalb haben wir - wie bereits gesagt - die deutschen Rollen mit Deutschen besetzt, in deutscher Sprache gedreht und unsere Hauptzielgruppe ist der deutsche Zuschauer. Was soll an einem Film mit einer nationalen Identität falsch sein?

Wird der Film dennoch auch im Ausland gezeigt?

Clevé: Ja, und wir sind sehr gespannt, wie man in Amerika auf diesen Film reagieren wird, vor allem weil er nicht aussieht wie ein kleiner europäischer Film. Der Roman ist ja bereits 1957 in den USA erschienen. Ich glaube, daß es auch in Amerika Menschen gibt, die die deutsche Identität des Films zu schätzen wissen, weil er ihnen etwas Ehrliches zu erzählen hat. Ein deutscher Film, der US-Vorbilder kopiert, würde dagegen in den Vereinigten Staaten wohl bestenfalls belächelt werden. „Das Boot“, zweifellos auch ein Film mit nationaler Identität, machte ebenfalls keine Kompromisse und wurde in Amerika mit großer Anerkennung aufgenommen. Wolfgang Petersen, der „Das Boot“ verfilmte, ist heute ein gefragter Regisseur in den USA.

Gab es aufgrund der Themenwahl und Umsetzung politische Anfeindungen gegen Ihr Projekt?

Clevé: Dafür gibt es doch in unserem Film gar keine Angriffspunkte, und hätte es solche Vorwürfe gegeben, hätte ich schon ein paar Antworten parat gehabt.

Während andere Nationen in ihren Geschichtsspielfilmen ihre nationalen Mythen zelebrieren, sind es bei uns die Traumata.

Clevé: Das hat natürlich seinen Grund im unglücklichen Verlauf unserer Geschichte. Ein Wort wie „Heimat“ darf man ja heute noch kaum aussprechen. Auch „Familie“ gilt bei uns unterschwellig als belastet. Diese Dinge anzusprechen und offen zu sagen, daß das eigentlich wahre Emotionen sind, erfordert schon etwas Mut. Aber wenn man das überzeugend anpackt, wie wir das in unserem Film gemacht haben, dann funktioniert es auch.

Haben Sie denn im Sinn gehabt, mit dem Film auch Heimat zu stiften?

Clevé: Absolut. Forell will zu seiner Familie zurückkehren. Das ist das Schicksal einer ganzen Generation gewesen, das ist die Geschichte, die zu diesem Land gehört und an der wir es wiedererkennen können.

Wie haben Sie es geschafft, den umfangreichen Stoff des Buchs auf 158 Filmminuten zu reduzieren?

Clevé: Der Roman beschäftigt sich zunächst intensiv mit dem Transport ins und dem Leben im Gulag. Bei uns nehmen Transport und Lager zusammen etwa eine Stunde des Films ein, der Rest widmet sich der Flucht. Das bedeutet natürlich große Kürzungen gegenüber dem Roman, aber eben in Form der Konzentration auf das für uns Wesentliche. Wir haben das Buch nicht als Roman verfilmt, sondern haben einen eigenständigen Spielfilm daraus gemacht. Allerdings alles in Übereinstimmung mit der Familie des Autors.

Die Rückkehr zur Familie bildet in der Erzählstruktur des Films eine wesentliche Klammer, im Roman dagegen kommt sie kaum vor.

Clevé: Bei uns spielt die Beziehung Forells zu seiner Tochter eine große Rolle: Er verläßt die Familie, weil er an die Front muß, da ist sie erst ein paar Jahre alt. Als er 1953 zurückkehrt, ist sie bereits ein Teenager. Wir wissen durch unsere Testvorführungen, daß der Film bei Frauen besonders gut ankommt, was ohne diesen Aspekt bestimmt nicht der Fall wäre. Es gibt mehrere Stellen im Film, an denen man weinen kann. Die deutschen Filmemacher scheuen vor Emotionen zurück, das deutsche Publikum nicht. Aber auch das jahrelange Duell zwischen Forell und dem Sowjetoffizier Kamenev haben wir eingefügt, um der Geschichte die nötige Kinodynamik zu verleihen.

Was unterscheidet den Film von der Fernsehproduktion von 1959?

Clevé: Der WDR hat damals das Buch wirklich beinahe werkgetreu verfilmt. Alles geht sehr langsam - es waren immerhin sechs mal neunzig Minuten - und die Atmosphäre ist seltsam unwirklich. Man merkt, daß es eine Studioproduktion war.

Davon wollten Sie sich absetzen?

Clevé: Wir wollten Kino machen, eine große Geschichte groß verfilmen und dennoch den Leuten das Gefühl geben, daß alles mit dem Leben der Menschen zu tun hat.

Sehen Sie sich mit Ihrem Film in einer gewissen Tradition, oder erachten Sie ihre Arbeit als gänzlich eigenständig?

Clevé: Ich sehe da keine Tradition in der Bundesrepublik, an die ich anknüpfen könnte. Es gibt in der jüngeren Zeit keine deutschen Filme, die sich mit deutschen Schicksalen befassen. Da hat man sich bislang bei uns leider kaum herangewagt.

 

Bastian Clevé geboren 1950 in München. Nach seiner Ausbildung beim Fernsehen, an der Kunsthochschule in Hamburg und am San Francisco Art Institut beginnt Clevé seine Tätigkeit als freiberuf-licher Produzent und Autor (z.B. „Out of Rosenheim“). Er gewinnt zahlreiche nationale und internationale Filmpreise. Seit 1991 lehrt er an der Filmakademie in Ludwigsburg Produktion. Seit dem 27. Dezember 2001 läuft sein neuer Film „So weit die Füße tragen“, nach dem Roman von Josef Martin Bauer (erschienen als Buch und Hörbuch bei Bastei Lübbe), in den deutschen Kinos.

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