© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/01 01/02 21. Dezember / 28. Dezember 2001


Friedhelm feiert Weihnachten: Im Kreis der Familie entspannt Chips genießen
Video am Heiligabend
Eva-Maria Storch

Friedhelm entriegelt sein Handy und schaltet es ab. Deo gratias: Endlich Weihnachten! Mit einem Knopfdruck auf die Aus-Taste seines Nokia verabschiedet er sich von der Belegschaft samt Vorstand, von Zulieferern, Regulierungsbeauftragten, Rechtsanwälten, von Geschäftsfreunden und Dienstleistern.

Während Friedhelm sich schon im Geist über das Fondue hermacht, kullert eine leere Bierflasche vor ihm durchs Abteil. Andere Zeiten, andere Sitten: Normalerweise gönnt er sich einige Stunden vorher Feierabend oder ist mit dem Auto unterwegs. Heute aber wollte er alles wegschaffen, reinen Schreibtisch machen - und ist deshalb mit dem letzten Zug unterwegs.

Niemand, den er sonst trifft, ist hier zu sehen. Es ist seltsam leer. Was versteckt hinter den Sitzlehnen übrig geblieben ist, muß eine andere Spezies sein. Man sieht weder Sekretärinnen noch Jungunternehmer, keine Mütter mit ihren Kindern oder ältere Leute, die vom Einkaufen kommen. Stefan meets Erkan. „Du Arschloch grins nicht so blöd.“- „Aua Du Drecksau, das tat weh.“ - „Ist doch eine Schande mit Dir in der Familie zu sein.“ - „Jetzt hab ich noch ein Lehmer gut und dann sind wir quitt…“ Moment: Hat der Typ da wirklich eine Bademütze an? Nicht so genau hingucken, sonst klebt er Dir eine. Komisch: Niemand trägt um diese Uhrzeit einen Aktenkoffer mit sich herum, einen Strauß Blumen oder quält sich mit Weihnachtspaketen. Niemand außer Friedhelm. Mühsam hatte er sich zwischen Tüten und Paketen eingekeilt. Bei Odin und Konsorten war die Wilde Jagd ja auch immer erst ab dem 21. Dezember losgegangen. Warum also nicht auch im 3. Jahrtausend noch kurz vor knapp von Kasse zu Kasse fegen?

Ursprünglich hatte Friedhelm sich nur einen iPad von Apple besorgen wollen, aber der war leider ausverkauft. Dann kam der Frustkaufrausch, dann die Besinnung: Was sollte er mit seiner ganzen MP3 Hörspiel Bibliothek machen, die er in monatelanger Kleinarbeit für seine Kinder zusammengenapstert und per hoerspiele.de (Europa-Klassiker), amazon.de und hotline-Server vervollständigte.

Schließlich besorgte er zum MP3 Hören einen DVD-Player. Zwecks leichterer Handhabung befestigte der Verpackungsdienst von Saturn einen Drahtgriff mit Holzrolle an der festgeschweißten Kunststoffstrippe. Als Kind hatte Friedhelm einmal einen Wellensittich, der auf einem solchen Dingens saß. Der sollte eigentlich ins Guiness Buch der Rekorde kommen und der älteste seiner Art werden - wäre er vielleicht auch geworden, hätte Friedhelm ihm nicht eine zu intensive Pflege angedeihen lassen (Samstags war Duschtag.)

Immer wieder nickt Friedhelm ein, schreckt hoch, in der Angst seine Station verpaßt zu haben und registriert im Halbschlaf, daß er der letzte im Abteil ist. So wie früher, als er mit dem Zug nach Mitteldeutschland fuhr und sich der Grenze näherte. Nur dieser typische Plastikgeruch fehlt. Der Heiligabend beginnt mit einem kurzen Frühstück. Dieses Jahr sind ein Samstag und ein Sonntag zur allgemeinen Erholung vorgeschaltet: Der Streß hält sich in Grenzen. Friedhelm liest seinen beiden mittleren Töchtern den „König von Narnia“ vor, während die Älteste den Christbaum schmückt. Den ganzen Advent über hatte seine Frau jeden Abend mit den Kleinen gesungen und die Krippenfiguren weiter Richtung Bethlehem bewegt. Jetzt polsterte sie den Stall mit Stroh aus und stellte Ochs und Esel dazu. In der Mitternachtsmette war ein ähnliches Arrangement wiederzufinden: Leute, die Friedhelm nie zuvor gesehen hatte, führten ihre Pelze aus. Vergeblich suchten sie nach Rudolf, dem rotnasigen Renntier und kamen schon ins Grübeln, ob dies nicht die falsche Vorstellung war. „Zwar gibt’s dieses Jahr ’ne Laienpredigt aber bis zum Frauenpriestertum haben es die Katholiken immer noch nicht gebracht.“ Reality stimmt zum Glück nicht mit der Fernsehwirklichkeit überein. Als für den ersten Weihnachtsfeiertag ein ökumenischer Wort-Friedens-Gottesdienst angekündigt wird, betet Friedhelm ein „libera nos Domine“ und beschließt, morgen das Hirtenamt sowie die für den alten Ritus obgligatorische dritte Messe in einer Indult-Gemeinde zu besuchen. (Kostet zwar den ganzen Vormittag, aber dafür nicht die Ewigkeit…).

Zum Mittagessen findet sich die ganze Verwandtschaft beim Schweinebraten ein. Ist schon ein paar Jahre her, seit man sich gesehen hat, denn mit dem Mauerfall sind auch die Schokoladentransporte obsolet geworden. Seither trifft man sich selten. Nach Kaffee und Kuchen tragen Friedhelms Töchter Gedichte vor - zur allgemeinen Freude und zum Stolz der Großmutter, die sich bislang wegen seines Kindergartens eher schämte. Jetzt steht sie im Mittelpunkt und hätte nichts dagegen, wenn das Dutzend schon voll wäre. Vergessen ist der schwule Vetter, dessen Eloquenz stets lobenswert war, vergessen die Base, welche zwar eine tolle Managerin ist, aber jenseits der Karriere nichts auf die Reihe kriegt. Daneben die emanzipierte Tante, die nichts selbstverwirklichte, außer den seelischen Ruin ihrer Familie. Am Abend lädt Friedhelm ins Kino ein: „Der Herr der Ringe“ steht auf dem Programm. Auf diesen Augenblick hat er jahrelang gewartet. Um die Verwandten individuell einzustimmen, hat Friedhelm eine ganze Eishockey-Tasche voll Naschwerk mitgebracht. Oriental-Chips von Bahlsen (jetzt: Lorenz) für den opulenten Onkel mit Freundin aus 1001 Nacht; Zwiebel-Sauercreme Pringles, um die sonst nur Süßigkeiten essende Schwägerin auf den Geschmack zu bringen; Paprika-Zweifelchips aus der Schweiz für den extravagant-filigranen Homo; die Taccos samt grünem Tabasco behält Friedhelm sich selbst vor. Den Film finden alle gut. Die Chips auch. Nur Friedhelm hat Schluckauf: Es ist zu scharf, denn aus Versehen hatte er die rote Sauce aus dem Hause Mc Ilhenny eingesteckt und dies vor Dunkelheit und Spannung solange nicht gemerkt, bis der Mund taub war. Naja, das neue Jahr fängt trotzdem bombig an.


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