© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/01 01/02 21. Dezember / 28. Dezember 2001


Klempner im weißen Kittel
von Heinrich Kuhn

Unser Gesundheitssystem wird als eines der Besten in der Welt gelobt. Nachweisen läßt sich die Qualität und vor allem die Finanzierbarkeit des komplizierten Apparats nicht mehr. Tatsache ist, daß immer mehr Geld für das System erforderlich ist und zugleich immer mehr Behandlungsbedürftige entstehen. Das zeigt, daß ein grundsätzlicher Fehler im System steckt, sonst müßte es zur Senkung der Kosten und der Zahl der Kranken kommen. Daß dies nicht nur am sogenannten Fortschritt und an den Kosten für neue Entwicklungen liegen kann, müßte den Kennern der Materie klar sein. Das bedeutet, wir machen uns etwas vor über die Effiziens unseres Systems und versäumen dabei, an die Grundfehler heranzugehen.

Die Ärzteschaft wird vom Hochschulstudium an und besonders in den großen Kliniken in dem Glauben erzogen, es sei alles machbar und lösbar, und wenn noch nicht heute, dann durch weitere intensive Forschungen und Bemühungen morgen oder übermorgen. Durch Verwissenschaftlichung und Aufsplitterung in Spezialfächer ist der Eindruck entstanden, ein Anhäufen von Spezialwissen erweitere unsere Kenntnisse vom kranken Menschen. Spätestens in der Praxis, das heißt im täglichen direkten Umgang mit dem Patienten, insbesondere außerhalb von Ausnahmesituationen, muß dem Arzt klar werden, daß er mit Defiziten in seinem Kenntnisstand umgehen muß. Er hat nichts oder nur wenig gelernt über die Entwicklung von Krankheitszuständen im Laufe einer persöulichen und generationsübergreifenden Biographie, er hat nichts gelernt über die Weisheit der Natur, Krankheiten zu überwinden und Schäden auszugleichen, insbesondere auch nichts über das eerstaunliche Bemühen des Organismus, von selbst seinen Zustand zu verbessern. Diese Defizite müßten den Hochschullehrern eigentlich klar sein, spätestens dann, wenn sie selber zu Patienten werden. Im Zusammenhang damit muß deutlich gemacht werden, daß die Medizin immer noch keine Wissenschaft ist und auch nie sein wird, auch wenn sie sich berechtigterweise der Wissenschaften bedient; sie ist und bleibt Erfahrung und Kunst. Ein Fehler der Vergangenheit ist der Ersatz des Philosophikums durch das Physikum und die zunehmende Bedeutungslosigkeit der Medizingeschichte. Es ist unmöglich, Menschen zu behandeln, ohne von ihrem Wesen eine Vorstellung zu haben. Und es ist unmöglich, das jetzige Tun richtig einzuschätzen ohne gute Kenntnisse dessen, was frühere Ärztegenerationen leisteten.

Die Möglichkeit, in den Organismus einzugreifen, hat in der Chirurgie und der Intensivmedizin zu ungeahnten Erfolgen geführt. Es ist aber unübersehbar, daß entsprechendes Eingreifen mit Antipyretika, Analgetika, Antibiotika, Antazida, Antiarrhythmika u.a. zu Folgen führt, die wieder neue Behandlungsstrategien erfordern usw. Damit entsteht ein Heer von ständig therapiebedürftigen Patienten, was den Pharma-Unternehmen nur recht sein kann. Es wird nicht eingesehen bzw. eingestanden, daß es vielfach lediglich zur Symptomverschiebung kommt. Dabei werden Systeme, die von ihrer Methode her Heilung in Gang setzen, unterdrückt, bestenfalls ignoriert. Ich denke hier an Methoden wie Homöopathie und Akupunktur. Die vielen Erfolge, die diese Methoden seit vielen Jahren aufweisen, können von den Hochschullehrern eigentlich nicht übersehen werden, und doch wird aus Gruppeninteresse verhindert, diese Methoden in Lehre, Forschung und allgemeine Behandlung zu integrieren.

Als Rettungsanker in der jetzigen finanziellen Zwangslage wird die Prävention gepriesen und propagiert. Das ist jedoch nicht viel mehr als Augenwischerei. Denn eine echte primäre Prävention bedeutet Erziehung von Lebensbeginn an, Gesundheitserziehung auf den Gebieten der Ernährung, Kleidung, Bewegung, Umgang mit Luft, Wasser, Boden und schließlich auch den Gemütsvorgängen. Hierher gehört Minderung von Risikofaktoren von Anfang an, beginnend bei der Erziehung zur Mutterschaft, dann im Kindergarten und der Schule etc. Die Zunahme von Übergewichtigen und Zigaretten-, Alkohol- und Drogenkonsumenten zeigt eklatant das Fehlen von wirklicher Prävention. Was heute angesprochen wird, ist höchstens sekundäre bzw. tertiäre Prävention, häufig bei Patienten, die sowieso in ärztlicher Betreuung sind. Hier wird mit Schlagworten Politik gemacht, um die eigentlichen Probleme zu verdecken oder sich neue Einnahmequellen zu erschließen. Eine Hilfe für die primäre Prävention wäre ein praktikables Gesundheitsbuch, das die Menschen von Geburt an begleitet und das nicht zu statistischen Zwecken, sondern für relevante persönliche Eintragungen gebraucht wird. Zum Kapitel Prävention gehört auch das Überdenken der heutigen Impfpraktiken. Es fehlen ehrliche Nutzen-Risiko-Untersuchungen und die Erforschung von möglichen Langzeitfolgen. So bestechend der Gedanke der Krankheitsverhinderung durch Impfung ist, so muß doch darüber nachgedacht und offen diskutiert werden, ob die Zunahme z.B. der allergischen Erkrankungen auf das Konto der Impfungen geht.

Obwohl die Erfolge der Ersatzteil-Medizin glänzend und unbestritten sind, ist diese Entwicklung nicht nur als Fortschritt zu preisen. Diese Art von Medizin ist das unausgesprochene Eingeständnis der Unfähigkeit, den Anfängen zu wehren. Endzustände zu reparieren ist zwar verdienstvoll; verdienstvoller wäre es indes, diese erst gar nicht entstehen zu lassen. Wenigstens sollte am Beginn der Störung eine Behandlung stehen, die Restitution vielleicht noch möglich machte. Sollte der eigenen Strategie diese Möglichkeit fehlen, so muß der Arzt sich ehrlicherweise dort informieren, wo die ordnenden und selbstregulierenden Kräfte des Organismus gefördert werden. Das Bestreben zur optimalen Organisation darf nicht ohne Not und tiefgreifende Konsequenzen gestört werden. Man kann in die sich selbst regulierenden Systeme nicht mit äußeren Zwängen eindringen, es sei denn, man nimmt die in Kaskaden ablaufenden Folgeprozesse in Kauf. Gesundheit, Krankheit und Heilung bedürfen unter dem Aspekt der Regulation und Vernetzung eines ganzheitlichen Ansatzes im Bewußtsein, daß Gesundheit und Krankheit ein sich bedingender dynamischer Prozeß ist, der ständig und meist unbemerkt in uns abläuft, mit dem biologischen Systemen innewohnenden Bestreben, die höchstmögliche Stufe von Organisation zu erreichen, was wir im Idealfall Heilung und Gesundheit nennen.

Es hat sich eine Verkehrung der therapeutischen Initiative eingeschlichen. Während früher der arzneiliche Handlungsbedarf bei den Ärzten lag, geht er heute von der pharmazeutischen Industrie aus. Die Strategie ist marktwirtschaftlich geprägt. Was sich gut verkaufen läßt, wird angeboten.Die Werbung suggeriert Wunderdinge, die Medien bringen lancierte Berichte, und schon ist den Ärzten, die eigentlich den Bedarf vorgeben sollten, die Initiative aus der Hand genommen. In der Praxis diktiert schließlich die Tablettenindustrie, was zur Verordnung ansteht. Unterstützt wird das durch die sogenannte Richtlinienmedizin, die einer individuellen Verordnungsweise die Berechtigung streitig macht.

Das sozial geprägte Krankenkassensystem und das marktwirtschaftliche System der Leistungsanbieter und der Medizin-lndustrie sind nicht kompatibel. Gewinnmaximierung der Aktiengesellschaften und der Solidaritätsgedanke der Krankenkassenmitglieder lassen sich nicht miteinander vereinbaren. Derzeit sollen sich allein die Patienten und die Ärzte solidarisch und sozial verhalten, während alle anderen Teilnehmer am System weiterhin marktwirtschaftlich orientiert sind. In Zeiten der vollen Kassen konnte dieser Systemfehler übergangen werden, jetzt gibt es nur noch Leidtragende (hauptsächlich die Patienten) und Gewinner. Daß die Ärzteschaft in diesem System ihre eigenen Interessen vertritt, ist ihr nicht zu verargen, und es wäre unredlich, dies mit den Arqumenten der Patienten zu tun.

Die Rolle der Krankenkassen hat sich gewandelt von einer Interessengemeinschaft der Versicherten zu einem eigenständigen Machtfaktor im RouIette um die Gelder im System. Gesundheit kann nicht am Markt gekauft werden, sie ist auch kein Artikel von Angebot und Nachfrage. Sie ist demnach ungeeignet für marktwirtschaftlich orientierte Systeme, die zudem für die Betroffenen, die Patienten, undurchschaubar geworden sind. Gesundheit kann nicht von außen gemacht oder wie in einem Reparaturbetrieb wiederhergestellt werden. Sie ist die Errungenschaft eines lebenslangen Bemühens des Einzelnen, unterstützt durch positive Einflüsse der Gesellschaft - und eine Medizin, die sich der wunderbaren Macht des selbstregulierenden und optimierenden Organismus unterstellt.

Die praktischen Konsequenzen müssen vor allem sein eine Gesundheitserziehung als wirkliche Prävention, Anthropologie, Philosophie und Medizingeschichte als Pflichffächer zu Beginn des Medizinstudiums und eine vorurteilsfreie Beschäftigung mit sogenannten alternativen Heilmethoden. Ein System, das an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit gekommen ist, kann nicht das optimale sein.

Trotz aller unbestrittenen Erfolge sehe ich bei der klinischen Medizin einen grundlegenden Fehler, nämlich der Gedanke an das Machbare, der Gedanke an das Ausschalten von Krankheit um Gesundheit zu machen, der Gedanke vom Gegensatz. Hier liegt die Utopie. Das Dilemma wird immer offensichtlicher, das Problem wird auch bei allergrößtem Einsatz von Geisteskräften und Geldmitteln so nicht lösbar sein. Die klinische Medizin hat sich durch das Leugnen der in allem Lebendigen vorhandenen energetischen Dimension in eine schlimme Sackgasse manövriert.

Die Aufsplitterung des Gesundheitswesens in immer mehr Bereiche und Subspezialitäten ist auf der Seite der Therapie eher zu einem Hindernis auf dem Weg zu einer umfassenden Behandlungsstrategie geworden. Verstellt wird dabei der Blick auf das Wesen des Krankwerdens und Gesundens. Eine wieder integrierte Anthropologie, die wegführt von Augenblicksbetrachtungen, muß über die Gesamtbiographie und eine Generationsdiagnostik hinführen zu einer Gesamtschau des kranken Patienten und der kranken Gesellschaft.

Die Homöopathie hat hierfür Modellcharakter. Sie ist eine integrative Methode und lehrt eine umfassende Diagnostik der Krankheitsentwicklung und eine des status quo, wobei der kranke Mensch selbst als feinster Indikator für seine Beschwerden steht, abgesehen von der wirklich erforderlichen klinischen Diagnostik.

Das Modell für dieses prozeßhafte Geschehen ist nicht die Maschine, nicht die Statistik, sondern der Mensch selber. Er demonstriert uns mit seinen Symptomen unendlich viel feiner und genauer als alle äußeren Untersuchungen die verstimmten Lebensvorgänge auf der leiblichen, seelischen und geistigen Ebene. Wir müssen nur wieder lernen, genau hinzuhören und hinzusehen, also mit unseren Sinnen unser Gegenüber, den kranken Menschen in seiner Gesamtheit zu erfassen und zu verstehen.

Die homöopathische Analyse und daraus abgeleitete Behandlungsstrategie erlaubt Prognose und umfassende Therapie. Die Aufsplitterung in Detailbereiche entfällt häufig. Bei rechtzeitigem Therapiebeginn ist ein Zugewinn an Gesundheit bzw. die Vermeidung der Chronifizierung zu erwarten. Aus diesen Gründen ist die Homöopathie die favorisierte Familienmedizin. Sie läßt sich jedoch genauso gut in Fachpraxen und Kliniken integrieren. Die Auswirkungen auf die Volksgesundheit und die derzeitigen ökonomischen Schwierigkeiten sind unverkennbar. Nötig ist ein Heilsystem, das zu mehr individueller und kollektiver Gesundheit führt - auch hier ist die Homöopathie gefordert als eine Disziplin, die Diagnostik und Therapie methodisch vereint. Dazu braucht es ausreichend Zeit für ein umfassendes Gespräch inklusive Untersuchung, um ein Gesamtbild der Patientenpathologie zu bekommen.Hier ist eine veränderte redliche Honorarpolitik gefordert. Gute kollegiale, konkurrenzfreie Zusammenarbeit mit Spezialisten, um die sinnvolle und notwendige Diagnostik durchzuführen, sollte durch die medizinische Standesethik gesichert sein. Die Ausbildung darf nicht nur hochschulmedizinisches Basis- und Spezialwissen vermitteln, sondern muß auch die Grundlagen und Möglichkeiten anderer Diagnose- und Therapieverfahren vorurteilsfrei einschließen, damit für den Patienten ein möglichst guter Weg in interdisziplinärer Zusammenarbeit gefunden werden kann.

Der Begründer der homöopathischen Medizin Samuel Hahnemannrichtete sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gegen die brutalen Praktiken des Schneidens und Brennens, Purgieren und Aderlassens. Heute meint man, weiter zu sein, und ruft viel zu schnell nach drastischen und oft schädlichen Medikamenten. „Wenn der Mensch erkrankt ist,“ erklärt Hahnemann, „so ist ursprünglich nur die geistartige, in seinem Organismus überall anwesende, selbsttätige Lebenskraft verstimmt. Diese Dynamis gibt seine krankhafte Verstimmung nur durch Äußerungen von Krankheit in Gefühlen und Tätigkeiten durch Krankheitssymptome zu erkennen und kann sie nicht anders zu erkennen geben.“ Daher gilt es nicht nur, Symptome zu verbannen, sondern vor allem die „Lebenskraft“ des Patienten zu stärken.

 

Dr. Heinrich Kuhn ist Arzt für Allgemeinmedizin und Homöopathie sowie Dozent an der Akademie Homöopathische Ärzte Tübingen.


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