© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/01 01/02 21. Dezember / 28. Dezember 2001

 
Scheitern in Würde
Kino I: „Ich geh’ nach Hause“ von Manoel de Oliveira
Werner Norden

Manoel de Oliveiras („Reise an den Anfang der Welt“) Film „Ich geh’ nach Hause“ ( „Je rentre à la maison“) handelt vom Scheitern in Würde. Gilbert Valence (Michel Piccoli) ist ein berühmter, alter Theaterschauspieler. Dank seines großen Talents und seiner langen Karriere hat er viele Rollen gespielt, von denen andere Schauspieler nur träumen können. Nach einer umjubelten Theateraufführung eines Shakespeare-Stückes wird er eines Abends von einem schweren Schicksalsschlag getroffen. Sein Agent und alter Freund George (Antoine Chappey) teilt ihm hinter der Bühne mit, daß seine Frau, seine Tochter und sein Schwiegersohn bei einem schweren Autounfall getötet wurden.

Aber die Zeit vergeht, die Narben beginnen langsam zu verheilen und das Leben kehrt zurück in den Alltag Gilberts und seines Enkels Serge (Jean Koeltgen), den er abgöttisch liebt. Auch dem Theater hat er die Treue gehalten, und als ihm sein Agent eines Tages die Hauptrolle in einer Fernsehserie mit den aktuellen Themen Drogen, Sex und Gewalt anbietet, lehnt Gilbert diese Zumutung entrüstet ab: Er hat nicht eine solch beeindruckende Karriere gemacht, nur um mit Rollen, die er zutiefst verabscheut, viel Geld zu verdienen.

Ein paar Wochen später schlägt ihm ein berühmter amerikanischer Filmregisseur (John Malkovich) eine wichtige Nebenrolle in einer „Ulysses“-Adaption des bekannten Klassikers von James Joyce vor, und Gilbert willigt nach kurzem Zögern und Nachdenken erfreut ein. Und bei den Probeaufnahmen scheint zunächst auch alles in bester Ordnung zu sein, Beleuchtung und Dekoration sind perfekt, die Schauspieler und der gesamte Stab voller Spannung und Erwartung. Doch Gilbert ist unruhig. Er hat Gedächtnislücken, aber nichts ernstes, der Regisseur ist rücksichtsvoll, sie werden morgen weiterproben, wenn er sich ausgeruht hat. Aber am nächsten Drehtag fühlt er, wie ihm die Welt aus den Händen gleitet und ihm die Worte fehlen. Gilbert kann sich nicht mehr an seinen Text erinnern. Ruhig meint er: „Ich geh’nach Hause...“

Manoel de Oliveira, der 93jährige portugiesische Regisseur, der sein Talent als Filmemacher seit über sechzig Jahren unter Beweis stellt und für seine Arbeiten zahlreiche Ehrungen und Preise kassiert hat, führt in seinen Filmen mit den Orten visuelle Zwiegespräche über die Menschen, die dort leben, ohne dabei je geschwätzig zu werden oder zuviel auszuplaudern. Obwohl die Handlung in „Ich geh’nach Hause“ fast zweigeteilt ist zwischen der Stadt und den Theaterstücken, so erlebt der Zuschauer doch ein Paris, in dem das Oberflächliche langsam Vorrang über das Wesentliche und Bedeutende zu gewinnen scheint. In einer Szene geht Gilbert nach einer Verabredung mit seinem Agenten durch eine dunkle, schmutzige Seitenstraße und wird von einem Drogensüchtigen überfallen, der ihn mit seinem Messer bedroht und ihm das Jackett mit der Geldbörse und die bequemen neuen Schuhe stiehlt. Als er seinen Freunden am nächsten Tag von diesem Erlebnis erzählt, reagieren sie entsetzt und schockiert, aber Gilbert steht längst über diesen Dingen.

Oliveira maßt sich nicht an, das Verhalten seiner Figuren zu erklären. Wie Jean Renoir, einer der größten Humanisten des Kinos, ist er der Auffassung, daß jeder im Leben seine Gründe hat, etwas Bestimmtes zu tun oder nicht zu tun. Insofern stellt er auch die Wirklichkeit nicht dar und reflektiert sie nicht, sondern taucht in sie ein und füllt sie mit Leben. Daß es für seine Filme hierzulande bislang kaum fruchtbaren Boden gab, mag man bedauern, aber vielleicht ändert sich das ja jetzt.

„Ich geh’nach Hause“ ist ein überaus ruhiger Film, der so gar nichts von der - im wahrsten Sinne des Wortes - Überdrehtheit der meisten Hollywood-Produktionen an sich hat. Er überzeugt durch Detailreichtum, die Präzision der Beobachtung und vor allem durch Michel Piccolis unglaublich intensives Spiel. Ohne die Kontrolle und ohne die notwendige Distanz zu verlieren, ohne sich von der Hektik und vom Trubel um ihn herum anstecken zu lassen, blickt sein Gilbert auf die Dinge herab, stürzt sich hinein ins Leben und bleibt doch immer irgendwie außen vor. Aber am Ende weiß der berühmte, alte Schauspieler ganz genau, was er in Zukunft machen wird: Jede Menge Zeit mit seinem Enkel Serge verbringen.

 

Fototext: Gilbert Valance (Michel Piccoli), Enkel Serge (Jean Koeltgen)


 
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