© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/01 01/02 21. Dezember / 28. Dezember 2001

 
Land der Kinder im fernen Meer
Von Adonis bis Zarathustra: Zur Einzigartigkeit der christlichen Weihnacht in der Mythologie
Günter Zehm

Das Baby in der Krippe, Wiege oder auf dem Mutterschoß als Gegenstand der Anbetung, als Gott - dieses Weihnachtsbild ist uns derart vertraut, daß wir kaum noch darüber nachdenken. Für Nichtchristen aber, ob gottgläubig oder nicht, stellt es die wohl größte Herausforderung dar, die mit dem Christentum in die Welt gekommen ist. Ausgerechnet ein Baby!

In keiner anderen Religion kommt so etwas vor, es sei denn, man denkt an gewisse Darstellungen des hinduistischen Gottes Wischnu, die ihn als Kleinkind zeigen. Wischnu steht aber in Konkurrenz oder Ergänzung zu anderen, gleich mächtigen Göttern, er ist nicht der „eine Erlöser“ wie Jesus Christus. Einzig im Christentum steht ein Baby im Mittelpunkt, wenigstens zeitweise, eben zu Weihnachten. Das erregte Anstoß oder reizte zum Lachen. „O ihr Gläubigen, die ihr im Glauben fest bleiben wollt“, mahnt der hochintellektuelle Koran in der 64. Sure, „im Baby habt ihr einen Feind, hütet euch vor ihm!“

Nun war es freilich nicht so, daß die Kindverehrung des Christentums keine Vorläufer in anderen Religionen gehabt hätte. Es gab solche Vorläufer, wenn sie auch nur eine schwache Spur hinterließen. Meistens erschien das Kindlein im Verbund einer “heiligen Familie” und nahm zusammen mit Vater und Mutter Anbetung und Opfer entgegen; der Zentralgott von Memphis in Ägypten, Ptah, wurde häufig mit seiner Frau Sachmet und seinem Sohn Neferten dargestellt. Die Abenteuer des Osiris-Sohnes Horus füllen ganze Hieroglyphenwände, und von der Geburt des Amun-Sohnes in Theben gibt es ein prächtiges Relief. Die Frau des Amun hält das Kind mit zärtlicher Gebärde, und um sie drängen sich die froschköpfige Hebammengöttin Heket und andere Untergötter, ganz wie die Heiligen auf einem Mariengemälde der europäischen Renaissance.

Adonis, der kleinasiatische Gott, der später in die griechische Mythologie übernommen wurde, liegt in einer hölzernen Krippe wie das Jesuskind und ist von solch strahlender Schönheit, daß sich gleich zwei Göttinnen, Aphrodite und Persephone, in ihn verlieben und einen Streit darüber anfangen, wer ihn besitzen darf. Zeus muß schließlich schlichten. Er entscheidet, daß Adonis ein Drittel seiner Zeit bei Aphrodite auf dem Olymp, ein Drittel bei Persephone in der Unterwelt und ein Drittel „bei sich selbst“ auf der Erde verbringen soll: Herr des Himmels also, Herr der Unterwelt und Herr der Erde.

Faszinierend auch die Sage vom Kind Zagreus, das im alten Griechenland in den eleusinischen, „orphischen“ Mysterien angebetet wurde. Zagreus ist Sohn des Zeus und Persephones, der Göttin der Unterwelt. Um ihn zu zeugen, hatte sich Zeus in eine Schlange verwandelt, ihn wollte er zum völlig gleichberechtigten Mitregenten des Universums machen. Doch die eifersüchtige Hera ließ das Kind von Titanen in Stücke schlagen, Apollo und Athene stürzten herbei, um die Katastrophe zu verhindern, konnten aber nur noch das Herz bergen, das noch zuckte. Zeus verschlang es und regenerierte dadurch den Zagreus, der nun - durch die Zerstückelung von aller Erdenschwere gereinigt - die ganze Antike hindurch zur Zentralgestalt der orphischen Kulte wurde, zum Symbol für göttliche Geburt, Martyrium und Wiederauferstehung.

Jenseits der geheimen Kulte, in der „offiziellen“ griechischen oder römischen Religion und Sozialpraxis, galt ein Baby nichts. Es wurde nach der Geburt von den Priestern und Familienvorständen argwöhnisch beäugt, hin und her gewendet und nur allzu oft für „inakzeptabel“ befunden und gnadenlos ausgesetzt. Kinder hatten keine Rechte, ihre frühen Kindheitserlebnisse interessierten nur die Mütter, sonst niemand. Niemand wäre je auf den Gedanken gekommen, ihnen göttliche Kräfte zuzuschreiben.

Auch das frühe Christentum war übrigens eine ganz und gar „erwachsene“ Religion. „Sunt pueri pueri, pueri puerilla tractant“, sagte der Apostel Paulus (l. Korinth. 13, 11): „Kinder sind Kinder, und Kinder treiben Kindisches.“ In den ersten Ikonographien erscheint Christus stets in erwachsenem Zustand, zunächst als jugendlicher guter Hirte, später als „Pantokrator“ (Weltenherrscher), als Richter oder als diplomatischer Vermittler zwischen Gottvater und der Gemeinde.

Erst im Mittelalter begegnen wir dann dem Jesuskind, üblicherweise als Bestandteil der Familie auf dem Schoß Marias, seltener als vereinzeltem Kindgott, zusammen mit einem Horusfalken oder mit einer Weintraube in der Hand, die an das Opfer seines Blutes erinnert. Das heute zu Weihnachten so gewohnte Bildensemble aus Maria und Josef, Ochs und Esel, Anbetung der Hirten und Jubelgesang der Engel, mit der Krippe und dem Baby im alles umfangenden und ordnenden Mittelpunkt, ist ganz spätes Mittelalter und Renaissance, ein frühbürgerliches Genrebild und Präludium zum modernen „Zeitalter des Kindes“.

Trotzdem darf man sagen, daß dieses Bild von Anfang an im Christentum angelegt war und sich gleichsam mit Schmetterlingslogik aus den Raupen der ursprünglichen Botschaft entpuppte. Es gibt die vergleichsweise ausführlichen Kind-Anbetungsgeschichten der Evangelien, es gibt die evangelikale Anweisung: „Werdet wie die Kinder!“ (Matth. 18, 3). Und es gibt im Lukas-Evangelium das sensationelle, vielfältig ausdeutbare, beinahe zarathustrisch, anti-zarathustrisch klingende Lob: „Die Kinder dieser Welt sind klüger als die Kinder des Lichts.“

Sind mit den Kindern des Lichts die antiken Philosophen gemeint? Die von Vernunft „erleuchteten“ Erwachsenen? Oder gar die Engel, die Sendboten des Vaters im Himmel? Jedenfalls korrespondiert die Stelle wunderlich mit der Predigt des (Anti-)Zarathustra bei Nietzsche: „Eurer Kinder Land sollt ihr lieben, das unentdeckte im fernsten Meere! Nach ihm heiße ich eure Segel suchen und suchen. An euren Kindern sollt ihr gutmachen, daß ihr eurer Väter Kinder seid ( ... ) Diese neue Tafel stelle ich über euch...“

Fast noch deutlicher wurde der italienische Gegenwartsphilosoph Gianni Vattimo, an sich ein guter Katholik, der in seinem Buch „Credere di Credere“ (deutsch bei Reclam, Stuttgart/Leipzig 1997) für ein Christentum ohne jeden Wahrheitsanspruch, ohne jede Theologie und Philosophie eintritt, also für ein dezidiertes „Christentum der Kinder“. Gott, so Vattimo, habe sich durch die Geburt Christi, seine Mensch- und Kindwerdung, derart umfassend und gründlich „entäußert“, habe sich derart resolut jedes intellektuellen Machtanspruchs begeben, daß man nun getrost und ohne Skrupel an ihn „glauben“ könne, genauso wie die Kinder an den Weihnachtsmann glauben.

Natürlich kann das nur eine Empfehlung auf Zeit sein. Aus Kindern werden Männer und Frauen, aus Gottkindern, die man nur anzustrahlen und liebzuhaben braucht, wirkmächtige Erlöser und Moralaufseher, die etwas von uns fordern, nicht zuletzt intellektuelle Zuwendung qua Nachdenken. Daß aber auch im ernstesten Dogmen- und Wertestreit die Liebe und der Glaube an ihre wärmende, letztlich entscheidende Kraft nicht abhanden kommen, dafür sorgt bei den Christen das Weihnachtsfest und der Anblick des Kindleins. Dieser Anblick macht den Geist nicht überflüssig, sondern er inspiriert ihn.


 
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