© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/01 01/02 21. Dezember / 28. Dezember 2001

 
„Das Christentum erhalten“
Martin Reyer, Propst der Jerusalemer Erlöserkirche, über Weihnachten im Heiligen Land und die Situation der Christen dort
Moritz Schwarz

Herr Reyer, Sie sind Probst der evangelischen Erlöserkirche in Jerusalem. Die politische Situation im Heiligen Land hat sich in den letzten Wochen dramatisch verschärft. Radikale Palästinenser überziehen Israel mit einer Welle des Terrors, Israel antwortet mit großer Härte und sieht in Arafat inzwischen offenbar nur noch den Feind. Die Weihnachtsfeierlichkeiten in Bethlehem und Jerusalem mußten abgesagt werden. Steht das Heilige Land zu Weihnachten vor dem Ausbruch eines neuen Krieges?

Reyer: Die Situation ist zwar wirklich furchtbar, aber an den Ausbruch eines neuen Krieges glaube ich nicht. In der Tat sind die offiziellen Weihnachtsfeierlichkeiten, sowohl in Bethlehem als auch die hier in Jerusalem, zunächst abgesagt worden. Doch nun hat man sich, nachdem das Weihnachtsfest bereits im letzten Jahr ausgefallen war, doch durchgerungen, trotz der zugespitzten Lage zu feiern.

Wie ist die Stimmung in Jerusalem?

Reyer: Es ist bedrückend, die Stimmung in der ganzen Stadt ist gedrückt. Egal ob Ost- oder Westjerusalem, die Depression liegt überall gleichermaßen in der Luft. Die Menschen fühlen sich hilflos der Spirale der Gewalt ausgeliefert. Sie haben keine Möglichkeit, auf die Dinge einzuwirken. Alle warten nur auf den nächsten Terroranschlag bzw. auf den Vergeltungsschlag, dann auf den darauffolgenden Terroranschlag und den nächsten Vergeltungsschlag und so weiter und so fort. Niemand weiß überhaupt noch, ist das nun ein Anschlag oder bereits eine Vergeltung oder die Vergeltung der Vergeltung. Das ist auch nicht zu beantworten, die Verwicklungen sind längst zu komplex geworden. Man hört die Leute hier immer häufiger sagen, jetzt könne nur noch ein Wunder helfen.

Arafat nimmt traditionell an den Weihnachtsfeierlichkeiten teil, auch in diesem Jahr?

Reyer: Ja, das hat er bereits angekündigt. Er ist, obwohl selbst Moslem, schließlich der Vertreter des ganzen palästinensischen Volkes, also auch der palästinensischen Christen. Das läßt sich Arafat nicht nehmen.

Erleben Sie die Gewalt selbst mit?

Reyer: Erst kürzlich hat sich bei uns in der Nähe, am King-David-Hotel, ein suicidebomber, ein Selbstmordattentäter, in die Luft gesprengt, da haben bei uns die Scheiben geklirrt. Es gibt in meiner arabischen Mitarbeiterschaft nicht eine Familie, die seit Beginn der al-Aksa-Intifada nicht wenigstens einen Toten zu beklagen hat. Diesen Menschen begegne ich tagtäglich, und natürlich nehmen ich und meine Familie an ihrem Leid Anteil.

Warum haben Sie sich freiwillig in dieser gefährlichen Weltgegend gemeldet?

Reyer: Ich habe ab 1993 von Stuttgart aus, wo ich seit 1992 Dekan war, eine Partnerschaft mit arabischen Christen in Ramallah aufgebaut - zu diesem Zeitpunkt galten bei uns in Deutschland die Palästinenser noch als Terroristen. Außerdem wollte ich selbst ins Heilige Land gehen, schließlich ist es die Geburts- und Wirkungsstätte unseres Heilandes. Und auch ich wollte einmal den heiligen Stätten der Christenheit nahe sein.

Die Erlöserkirche, obwohl selbst erst im 19. Jahrhundert gebaut, blickt auf eine lange Tradition zurück.

Reyer: Die Legende besagt, daß dieser Grund und Boden schon immer den Deutschen gehörte. So soll bereits der sagenhafte Kalif Harun al-Raschid Kaiser Karl dem Großen diesen Platz mit der Maßgabe geschenkt haben, er solle dort ein Hospital für die von ihrer Reise ins Heilige Land entkräfteten deutschen Pilger bauen. Diese Aufgabe hat dann der Hospitalorden übernommen, aus dem die Johanniter entstanden sind. Wir können hier also auf eine sehr lange Tradition zurückblicken. Dabei waren wir nie eine Missionskirche, sondern sorgen bis heute - zum Beispiel mit deutschsprachiger Sonntagsmesse - für die deutschen Pilger im Heiligen Land. Die Erlöserkirche selbst wurde von Kaiser Wilhelm II. gebaut und schließlich1898 auf seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land von ihm persönlich eingeweiht. Damit ist die Gemeinde der Erlöserkirche in Jerusalem eine Auslandsgemeinde der evangelischen Kirche in Deutschland.

Wenn es keine Missionskirche ist, wer gehört dann zur Gemeinde?

Reyer: Deutsche Studenten der hebräischen Universität (Studium in Israel/ Ratisbonne), Theologiestudenten aus Dormiton, Mitarbeiter von Aktion Sühnezeichen und Frauen, die in caritativen Einrichtungen, teilweise seit Jahrzehnten Dienst tun. Außerdem haben wir enge Verbindungen zu Angehörigen der deutschen Botschaft in Tel Aviv und zu den Stiftungen der politischen Parteien.

Die meisten Christen im Heiligen Land sind aber Araber?

Reyer: Ja, in Jerusalem gibt es dreizehn Kirchen, also Glaubenskongregationen. Neben Protestanten und Katholiken natürlich die verschiedenen orthodoxen Kirchen, bis hin zur armenischen Kirche. Alle diese christlichen Kirchen zusammen bilden die etwa zwei Prozent Christen im Nahen Osten.

Sind die Christen des Heiligen Landes in erster Linie missionierte Christen oder Anhänger alter Kirchen im Nahen Osten?

Reyer: Touristen und Pilger fragen die palästinensischen Christen immer wieder, wer sie denn bekehrt habe. Dabei sind die arabischen Christen, gleich welcher Kirche sie angehören, stolz darauf, daß sie schon viel länger Christen sind als die meisten Europäer. Und zwar nicht nur in Gestalt der griechisch-orthodoxen, also der Kirche Ostroms, sondern zum Beispiel auch der armenischen Kirche, die schon vor der römischen Kirche Staatskirche wurde. Bis etwa zum 17. Jahrhundert waren die Christen hier beinahe alle griechisch-orthodox. Dann kamen Missionsbewegungen aus Europa ins Land, um Juden und Muslime zu missionieren. Da sie damit aber nicht sonderlich erfolgreich waren, haben sie schließlich unter den griechisch-orthodoxen Christen hier Konvertiten gesucht. Das ist eine Schuld, die wir westlichen Kirchen gegenüber unseren orthodoxen Glaubensbrüdern eingestehen müssen. Dennoch ist die griechisch-orthodoxe Kirche, noch vor den Franziskanern, die sich als custodes, also als Wächter des Heiligen Landes verstehen, die wichtigste der christlichen Kirchen hier.

Stehen die Christen des Heiligen Landes in Anbetracht der Verschärfung der Situation in Palästina und dem zunehmenden Einfluß radikaler Moslems und Juden unter erhöhtem Druck?

Reyer: Bislang bleiben wir diesbezüglich eher unbehelligt, aber unsere jungen christlichen Araber sehen oft keine Chance mehr für sich im Heiligen Land und wandern aus, nach Kanada, Australien oder Süd-Amerika. Deshalb sind wir europäischen Christen verpflichtet, unsere arabischen Glaubensbrüder hier im Lande zu stärken, damit das Christentum im Heiligen Land erhalten bleibt und nicht am Schluß nur noch ein paar Pfarrer wie Museumswärter auf die Kirchengebäude aufpassen. Das Christentum muß hier mit betenden, singenden und aktiven Gemeinden in der Nachfolge Jesu Christi bestehen bleiben.

Was ist der Grund für diese Auswanderung?

Reyer: Die arabischen Christen haben eine andere Wertorientierung als ihre muslimischen Landsleute und sehen, daß sie im Westen ganz andere Entfaltungsmöglichkeiten haben. Alle christlichen Kirchen haben hier Schulen, um die jungen arabischen Christen auszubilden. Dann aber wandern die Jungen ab. Das wollen wir verhindern. Deshalb bauen wir zum Beispiel Häuser, um die Jungen hier zu halten: Hier können sie ihre Kinder im christlichen Glauben großziehen.

Gibt es keinen Druck einzelner radikaler Gruppen, unter dem die Christen leiden?

Reyer: Das ist ganz verschieden, die Situation ist komplex. Es gibt nicht nur bei uns Christen verschiedene Gruppen, sondern ebenso bei Juden und Moslems. Man kann nicht sagen: Die Christen werden von den Moslems unterdrückt. Man muß sich schon die Mühe machen, die Verhältnisse der jeweils verschiedenen Gruppen untereinander zu betrachten. Ich würde den meisten Arabern bitter unrecht tun, wenn ich sage, die Moslems übten Druck auf die Christen aus. Ich muß das Problem mittels objektiver Aussagen beschreiben und zwar: Es gibt unter den christlichen Arabern den starken - durch Zahlen belegbaren - Drang auszuwandern. Das ist das, was ich Ihnen zu unserer Situation sagen kann.

Die Staaten Westeuropas und Israel sind befreundet. Sehen die Moslems die Christen folglich als Verbündete der Juden an, oder empfinden sie die christlichen Palästinenser in erster Linie als ihre nationalen Landsleute?

Reyer: Einerseits sind viele der wichtigsten Funktionsträger der Palästinenser selbst Christen, denken sie nur an Hannah Ashrawi, die Anglikanerin ist. Aber grundsätzlich haben wir das Problem, gerne von der jeweils anderen Partei dem gegenteiligen Lager zugerechnet zu werden. Unsere Predigten werden einfach „abgeklopft“ und jeder findet dann irgendetwas, was er als Beweis auslegen kann, wir würden es mit der anderen Seite halten. Deshalb legen wir Wert darauf, klar zu machen, daß wir eine eigenständige Größe sind. Die Erlöserkirche steht in der Altstadt von Jerusalem und ist damit ein rein arabisch besiedelter Stadtteil. Mit unseren arabischen Nachbarn hier im Viertel haben wir zum Glück keine Probleme. Und das, obwohl wir auch Juden zu uns in die Gemeinde einladen.

Neigen die Christen der Gemeinde gefühlsmäßig der Sache ihrer arabischen Glaubensbrüder zu?

Reyer: Wir verstehen die Angst der Juden sehr gut, man merkt ihnen an, vor allem den orthodoxen Juden, wie froh sie heute noch sind, endlich einen eigenen Staat zu haben. Aber wir sind natürlich durch unsere alltägliche Situation - ich habe vorhin schon beschrieben, wie direkt unsere palästinensischen Mitarbeiter von der Intifada betroffen sind - dem Leid und der Lage der Palästinenser näher.

Wie reagieren die palästinensischen Christen auf die Attentate ihrer islamischen Landsleute?

Reyer: Ebenfalls mit großer Bedrückung.

Im deutschen Fernsehen sind allerdings oft Bilder jubelnder Palästinenser zu sehen.

Reyer: Der Eindruck täuscht, nicht alle Palästinenser sind begeistert, wenn sich ein weiterer Selbstmordattentäter in die Luft sprengt. Wahrscheinlich stammen solche Bilder aus Gaza. Dort ist die Situation ganz anders als in Jerusalem. Dort ist die Frontstellung der Palästinenser zu den Israelis wesentlich ausgeprägter als bei uns. Gaza ist in einer ganz verzweifelten Situation. Es ist der am dichtesten bevölkerte Landstrich der Erde und die Menschen dort sind von den israelischen Truppen eingekesselt. Folglich sind die jungen Leute dort meist gänzlich perspektivlos.

Wie gehen Sie als Christ damit um, daß der biblische Anspruch der Juden auf Palästina mit Eroberung, Verteibungen und sogar Greueltaten durchgesetzt wurde. Nach christlichen Maßstäben ein schweres Unrecht - wie positionieren Sie sich mit Ihrer Gemeinde in dieser Frage?

Reyer: Einerseits ist da die Landverheißung Gottes an die Juden, andererseits hat das Land den Arabern gehört. Das ist ein Widerspruch, den auch ich nicht auflösen kann. Wir gestehen diesen Widerspruch ein, uns bleibt nichts, als beide Ansprüche zu akzeptieren und zu versuchen, mit allen in Freundschaft zu leben. Natürlich aber versuchen wir, das Leid beider Seiten zu verstehen und mitzutragen.

Verlangen die Palästinenser denn nicht - gerade die christlichen Palästinenser - , daß die Christen in dieser moralischen Frage einmal klar Stellung beziehen?

Reyer: Vielleicht erwarten sie es, aber sie verlangen es nicht. Wir lehnen das Unrecht ab, aber ebenso die Gewalt. Wir legen dazu die Bibel aus, enthalten uns aber jeder politischen Stellungnahme.

Wird Weihnachten von den streitenden Parteien als Friedenspause respektiert werden?

Reyer: Das hoffen wir natürlich, nur die Weihnachtspause ist hier sehr lang, denn als letzte feiern die Armenier Weihnachten und das ist erst am 17. Januar. Ob eine Friedenspause wohl so lange bestehen kann?

Obwohl die Christen nur eine kleine Minderheit in Jerusalem stellen, ist das Weihnachtsfest doch das größte Fest im ganzen Jahr. Nehmen denn Juden und Moslems an den Feierlichkeiten teil?

Reyer: Natürlich kommen jedes Jahr Tausende Gläubige aus aller Welt nach Jerusalem, um Weihnachten zu feiern. Aber tatsächlich feiern viele Muslime hier ebenfalls mit, verteilen Geschenke und kaufen sich sogar einen Weihnachtsbaum. Und es kommen auch viele Juden in unsere Kirchen und nehmen am Weihnachtsgottesdienst teil. Es wäre schön, wenn das ein Zeichen für die Zukunft sein könnte.


Propst Martin Reyer geboren 1946 in Gussenstadt auf der schwäbischen Alb. Er studierte in Tübingen, Zürich und Marburg evangelische Theologie und in Darmstadt Sozialarbeit. Nach einem Vikariat in Göppingen war er Referent im Diakonischen Werk Württemberg, schließlich Dekan in Stuttgart. 2001 wurde er zum Propst der Erlöserkirche von Jerusalem berufen, die mitten im arabischen Ostteil der Stadt liegt.

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