© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/01 14. Dezember 2001

 
„Zu Zugeständnissen bereit sein“
Interview: Der estnische Premier Laar und sein Außenminister Ilves über die Rückkehr nach Europa
Elimar Schubbe

Zentrales Ziel der estnischen Außenpolitik ist der EU-Beitritt. Darin sind sich die Regierung und die große Mehrheit der Parlamentsabgeordneten einig, auch in der Genugtuung darüber, daß die EU-Kommission in ihrem jüngsten „Fortschrittsbericht“ Estland ein gutes Zwischenzeugnis ausgestellt hat. Innerhalb der Bevölkerung gibt es indes Widerstände. Wo liegen die Gründe für dieses Nein und wie ist derzeit die Tendenz?

Ilves: Die Euro-Skepsis speist sich aus verschiedenen Quellen. Der weitaus wichtigste Grund ist die Befürchtung, daß Estland, nachdem es über fünf Jahrzehnte lang durch eine Union - nämlich die Sowjetunion - seiner Unabhängigkeit beraubt gewesen ist, die wiedergewonnene Unabhängigkeit nun in einer anderen Union, nämlich der Europäischen Union, wieder verlieren könnte. Aber die Tendenz ist derzeit eindeutig positiv.

Und wie denkt die große Minderheit der Russischsprachigen darüber?

Ilves: Deren Zustimmung zur EU ist etwa zwölf bis 15 Prozent höher als die der Esten. Ich will dies mal scherzhaft so erklären: The Russians like Unions.

Könnte das Fehlen einer endgültigen Regelung der Grenzfrage mit Rußland einem Beitritt im Wege stehen? Brüssel legt doch großen Wert darauf, daß kein Mitgliedstaat ungelöste Probleme mit Nachbarn außerhalb der Union hat.

Ilves: Es trifft zu, daß die EU Mitte der neunziger Jahre Estland eindringlich dazu aufgefordert hat, die Grenzfrage zu regeln und dabei zu Zugeständnissen bereit zu sein. Estland hat dieser Bitte entsprochen und auf die von der UdSSR annektierten Gebiete verzichtet. Der Grenzvertrag ist denn auch seit 1996 komplett ausgehandelt, allerdings von Rußland nur paraphiert, nicht ratifiziert worden. Die Europäische Kommission hat 1997 festgestellt, daß die fehlende Ratifizierung durch Moskau kein Aufnahmehemmnis sei. Nein, hier gibt es für Estland kein Problem. Es ist ein Problem für Rußland.

Nicht nur in der EU-Kommission ist man über das Ausmaß der Korruption in den sogenannten Reformstaaten Ostmitteleuropas besorgt. Zwar gilt Estland nicht als Hochburg der Korruption, doch manche Unternehmer zögern mit einem Engagement in Estland, weil sie befürchten, auch hier mit Schutzgelderpressung und Korruption in der Verwaltung konfrontiert zu werden. Was tut Ihre Regierung gegen die Korruption?

Laar: Es muß Gesetze geben, ein Justizwesen und eine Polizei, aber ganz wichtig: Es muß auch Unternehmer geben, die über Mißstände informieren. Hier liegt vielleicht das größte Problem. Denn viele Unternehmer haben noch nicht bemerkt, daß es auch in Ostmitteleuropa Staaten gibt mit klaren Gesetzen, einer funktionierenden Justiz und einer zuverlässigen Polizei. Estland hat das alles. Und seit wegen Korruptionsdelikten Verurteilte im Gefängnis sitzen, wissen die Menschen in Estland, daß es Gefängnisse für Schuldige gibt und diese nicht so ohne weiteres das Land verlassen können. In Estland ist die Lage sogar besser als in manchen Mitgliedstaaten der EU. Selbst internationale Untersuchungen haben in unserer Staatsverwaltung keine Korruption entdecken können. Nein, es geht bei uns nicht anders zu als in jedem normalen Staat. Bis wir allerdings den Status von Finnland und Schweden erreichen, ist es noch ein langer Weg.

Gibt es Querverbindungen zur sogenannten russischen Mafia?

Laar: Nicht viele. Wir haben in den ersten Jahren der wiedergewonnenen Unabhängigkeit diese Mafia konsequent bekämpft. Entscheidend war, daß wir deren Zugriff auf unser Bankensystem verhindern konnten. Seitdem hat diese Mafia längst nicht mehr solchen Einfluß bei uns wie in Rußland.

Auch wenn ein erfolgreicher Kampf gegen die Korruption geführt wird, sind damit aber noch nicht alle Zweifel an der Fähigkeit der estnischen Justiz beseitigt. Auch gutwillige Beobachter Estlands, nicht zuletzt in Brüssel, befürchten, daß die estnische Justiz nur im formalen Sinne dem EU-Standard angepaßt wird. Angesichts vieler widersprüchlicher Urteile entsteht der Eindruck, daß vor allem Richter der älteren Generation den Geist, der hinter dem von der römischen Rechtstradition geprägten EU-Recht steht, nicht wirklich begreifen, ja daß manche von ihnen - ohne selbst Kommunisten zu sein - noch dem alten sowjetischen Rechtsdenken verhaftet sind. Ist das ein schwerwiegendes Problem?

Ilves: Jein. Ich denke, daß in dieser Hinsicht die Situation Estlands der Spaniens nach Franco oder Portugals nach Salazar ähnelt. Und wenn wir noch weiter zurückgehen, kommen wir zur Vergangenheitsbewältigung und zur Entnazifizierung in Deutschland. Nur wenige Richter mußten nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihren Ämtern scheiden. Sie dienten über lange Zeit verschiedenen Systemen. Nein, ich bin nicht besorgt. Wenn andere Staaten den Übergang in ein anderes Rechtssystem geschafft haben, werden auch wir es schaffen. Zumal Estland einen beachtenswerten Vorteil hat: Die Esten sind viel mehr als die Menschen in den anderen Reformstaaten geradezu erfüllt von Leidenschaft für Recht und Gesetz. Denken Sie nur an das Monumentalwerk „Wahrheit und Recht“ des estnischen Schriftstellers Anton Hansen Tammsaare, in dem die Romanfiguren ständig zum Gericht laufen. Nein, die Esten haben einen ausgeprägten Sinn für das Recht. Darum bin ich davon überzeugt, daß wir in diesem Bereich keine größeren Probleme haben als Deutschland nach 1945, Spanien nach Franco und Portugal nach Salazar.

Zu den Sorgenbereichen der EU-Kommission gehört die unzulängliche Regionalpolitik der meisten Anwärterstaaten. Auch von Estland erwartet Brüssel weitere Anstrengungen. Und in der Tat: Jeder aufmerksame Besucher Estlands sieht, wie die Hauptstadt Reval als „boom-town“ einem Magneten gleich unternehmungslustige, innovative junge Menschen aus dem ganzen Lande anzieht. Könnte sich hier nicht ein gefährlicher Zündstoff entwickeln, wenn die „Provinz“ ihre arbeitswillige junge Generation verliert?

Laar: Das ist jetzt schon ein soziales Problem. Dessen Entstehung geht auf die Sowjetzeit zurück, in der das Regime die aktiven Menschen in die Städte lockte. Regionalpolitik ist daher wichtig. Wir bemühen uns, den Menschen klarzumachen, daß es auch in der Landwirtschaft und im Landtourismus Perspektiven gibt. Und die Rahmenbedingungen für neue Betriebe sind nicht nur in Tallinn (Reval), sondern auch in anderen Städten auf dem Lande gut. In einigen kleinen Städten wie zum Beispiel Rakvere (Wesenberg) und Kuressaare (Arensburg auf Ösel) können wir jetzt schon eine positive Entwicklung ausmachen, die auf das Umfeld ausstrahlt; aber es braucht leider seine Zeit, bis genügend Menschen diese Chancen erkennen. Das ist für uns ein großes Problem.

Bemüht sich Ihre Regierung darum, ausländische Unternehmen für Investitionen in der Provinz zu gewinnen?

Laar: Aber selbstverständlich. Wir haben auch der OECD und den großen Banken klar gesagt, daß es sich nicht nur in Tallinn lohnt, zu investieren, sondern auch in ein Infrastrukturprogramm wie zum Beispiel in den Straßenbau, damit die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft auf dem Lande noch weiter verbessert werden. Aber alles hängt natürlich von den Menschen dort ab, ob sie die neuen Chancen auch wahrnehmen.

Bis 1939 lebten zahlreiche Deutsch-Balten in Estland. Viele von ihnen engagieren sich privat in und für Estland, sie zählen aber gewiß nicht zu den millionenschweren Investoren. Welche Rolle könnten die einstigen Landsleute spielen?

Laar: Für uns sind, ich habe es schon gesagt, Investitionen auf dem Lande und im Landtourismus sehr wichtig. Hier kann man mit verhältnismäßig wenig Geld viel erreichen. Bei uns ist viel versäumt worden. Man dachte, Estland ist schön, die Touristen werden schon kommen. Aber so einfach ist es nicht. Es fehlen zum Beispiel in den schönsten Gegenden Estlands Wanderwege, und unsere historischen und kulturellen Denkmäler auf dem Lande werden - ganz anders als in den Tourismus-Programmen von Schottland etwa- viel zu wenig berücksichtigt. Hier können uns die Deutsch-Balten, die ja unser Land kennen, helfen - nicht zuletzt mit Werbung in Deutschland und damit, daß sie interessierte Deutsche nach Estland bringen. Wir brauchen diese Zusammenarbeit. Der Verlust der deutsch-baltischen Minderheit ist für Estland ein sehr schwerer Verlust.

Neben dem Beitritt zur EU ist die Mitgliedschaft in der Nato das zweite große außenpolitische Ziel Estlands. Das Nordatlantische Bündnis verlangt von seinen Mitgliedern und Beitrittskandidaten die Kompatibilität der gesamten Militärstruktur. Ist die kleine estnische Armee überhaupt in der Lage, solche Anforderungen zu erfüllen?

Ilves: Die Größe ist nicht entscheidend. Das Nato-Mitglied Island hat überhaupt keine Streitkräfte, und Luxemburg ist viel kleiner als Estland. Die Nato hat ein ganz konkretes und detailliertes Programm ausgearbeitet, nach dem unsere kleine Armee auszubilden und zu organisieren ist, um den erforderlichen Nato-Standard zu erreichen. Und ich kann Ihnen ruhigen Gewissens sagen, daß wir seit Beginn der Realisierung dieses Programms sehr erfolgreich sind. Das Argument, die estnische Armee sei zu klein, ist für die Nato ohne Bedeutung. Natürlich haben wir keine Panzerbrigaden. Die estnischen Streitkräfte erfüllen andere Funktionen, so zum Beispiel als Mitglied der Nato-Friedenstruppe in Bosnien, Kroatien und im Kosovo. Wir haben auch Polizeikräfte nach Albanien entsandt und sind jetzt mit Rettungsdiensten in Usbekistan tätig.

Die Nato erwartet von ihren Mitgliedern, daß sie bestimmte finanzielle Mindestaufwendungen für die Verteidigung in ihrem Staatshaushalten vorsehen. Entspricht Estland diesen Erwartungen?

Ilves: Aber ja. Ab dem Jahre 2002 wird der Verteidigungshaushalt zwei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt Estlands umfassen.

Und das entspricht dem Nato-Standard?

Ilves: Ja. Estland erfüllt damit - ganz im Gegensatz zu Deutschland - die Nato-Forderungen.

Bisher gehörten die USA zu den wichtigsten Befürwortern eines Nato-Beitritts der Baltischen Staaten. Könnte sich das nach der scheinbaren Annäherung Putins an den Westen in Sachen Terrorismusbekämpfung ändern? Befürchten Sie, daß die USA nunmehr aus Rücksicht auf Rußland den Baltischen Staaten den Beitritt zur Nato verwehren könnten?

Ilves: Nein. Die USA haben wiederholt zu verstehen gegeben, daß sie nach wie vor zu den Baltischen Staaten stehen. Der Kampf gegen den Terrorismus hat daran nichts geändert. Und was Putin betrifft: Seine kürzliche Erklärung in Brüssel, daß er zwar nach wie vor entschieden gegen die Erweitung der Nato um die Baltischen Staaten sei, aber dagegen nicht ankämpfen werde, war gewiß weise. Putin hat nach dem 11. September die Gelegenheit wahrgenommen, Rußland dem Westen anzunähern. Ob er sich letztlich durchsetzen kann, ist eine große Frage angesichts der Opposition der „Konservativen“ im eigenen Lande. Im Hinblick auf die wirtschaftlichen Vorteile für Rußland aus der Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation ist eine solche Annäherung sinnvoll. Mir scheint aber, daß Putin sich in einer ähnlichen Situation wie seinerzeit Gorbatschow befindet. Gorbatschow bewegte sich schneller vorwärts als das übrige Land. Was Putin sagt, ist gewiß sehr wichtig, scheint aber auf das eigene Außenministerium keinen großen Eindruck zu machen. Dort herrscht noch immer die alte Moskauer Lesart, daß Estland, Lettland und Litauen 1940 freiwillig der damaligen Sowjetunion beigetreten seien.

Spielt bei Putins rascher Zustimmung zur Allianz gegen den Terrorismus nicht auch eine wesentliche Rolle, sich damit von den USA und vom ganzen Westen Schweigen über das Vorgehen des Kremls in Tschetschenien zu erkaufen?

Ilves: Wahrscheinlich. Ich weiß zwar nicht, was derzeit in Tschetschenien geschieht, halte es aber für wichtig zu beobachten, was in Georgien geschieht. Das ist sehr, sehr seltsam. Und mir scheint, daß sich die Russen dort ziemlich schlimm aufführen. Wenn Moskau jedoch den Kampf gegen den Terrorismus dazu mißbrauchen sollte, sich außerhalb Rußlands in ein unabhängiges Land wie Georgien einzumischen, dann wird es Probleme bekommen.

Die instabile Lage in Georgien wird doch im wesentlichen durch die Abspaltung des abchasischen Landesteils verursacht. Was meinen Sie, will die große Mehrheit der Abchasen diese Abtrennung, oder ist das vielmehr eine russische Inszenierung?

Ilves: Wahrscheinlich letzteres. Es ist jedenfalls schwer vorstellbar, daß ein so winziges Land über eine ganze Flotte von Kampfhubschraubern verfügen sollte. Nein, das ist nicht möglich.

 

Mart Laar: Der 41jährige ist Mitglied der Vaterlandspartei und seit 1999 estnischer Ministerpräsident

Fototext: Außenminister Ilves (Estland), Berzins (Lettland), Saudargas (Litauen) mit Joseph Fischer: Toomas Hendrik Ilves wurde 1953 in Stockholm geboren und studierte in den USA. Ab 1984 arbeitete er bei „Radio Free Europe“ in München, 1993 wurde er estnischer Botschafter, 1996 wurde er zum Außenminister ernannt.

 

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