© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/01 07. Dezember 2001

 
Pankraz,
Johann Nestroy und der schwarze Gletscher

Schopenhauer aus dem Wurstelprater. So boshaft-treffend charakterisierte Anton Kuh Johann Nestroy, der heute vor zweihundert Jahren in Wien geboren wurde und an den man sich dort in diesen Tagen fast stürmisch erinnert. Kuh hätte noch genauer formulieren können: „Schopenhauer plus Wurstelprater“, das Welträtsel als Zuckerkringel, das Todesgedenken als Sprachwitz im Lokalpossenstil. Oder, original Nestroy: „Ich hör’ schon das Gras wachsen, in welches ich beißen werd’.“

Für uns heute lebt Nestroy leider nur noch in seinem Sprachwitz. Seine Gestik, sein Gebärdenkosmos, das Timbre seiner Stimme in Gesang und Rede, all das, wofür er zu seiner Zeit zusätzlich berühmt war - es ist vergangen, wir können es uns nur mühsam aus den damaligen Rezensionen und anderen schriftlichen Zeugnissen erschließen, denn Kino und Grammophon gab es noch nicht. Was für ein Verlust für die Nachwelt! Aber auch was für eine Chance für sie, sich diesem gewaltigen Mann ohne bewegte Bilder, einzig durch Sprache zuverlässig anzunähern!

Gewaltig war der Mann schon äußerlich, ein Riesenkerl von wahrscheinlich zwei Metern, gelernter Opernsänger und Schauspieler, der alle seine Mitspieler um volle Kopfeslänge überragte. Trotzdem ging er im Joch beim „Herrn Carl“, dem von wüstester Profitgier getriebenen „Entrepreneur“ Carl Andreas Bernbrunn, Direktor des Theaters an der Wien und des Leopoldstädter Theaters, für den er eine Posse nach der anderen auf die Bretter schmiß, oft drei, vier Stück in einem Monat, zusammengeklaut aus allen möglichen und unmöglichen Vorlagen, Pariser Vaudevilles von Paul de Kock, Possen und Zauberspiele von den Kollegen der anderen Wiener Volks- und Vorstadtbühnen, Fortsetzungsromane, Faschingssketche, studentische oder professorale Bierzeitungen.

Alle diese Sachen waren für Nestroy nur dazu da, um seine Gesangs-, Sprach- und Gestikpointen zu landen. Der „Text an sich“ bedeutete ihm nichts, war lediglich das Widerlager für momentane Extemporationen und Improvisationen, die im allerengsten Kontakt mit dem Publikum und der aktuellen Situation entfaltet wurden. Er war ein Meister der Dialekte und der Dialektnuancen und wußte noch die vertrackteste Redeweise bis in ihre entlegensten Winkel aufzuspüren und sie nachzubilden.

Wahrscheinlich hat es nie einen Mimen gegeben, der intimer mit seinen Zuhörern und Zuschauern verbunden war als Nestroy. Die Nachwelt war ihm gleichgültig, gute Rezensionen am nächsten Tag interessierten ihn nur unter geschäftlichen Gesichtspunkten. Was einzig zählte, war der Augenblick, jener unendliche Augenblick, da die Pointe einschlug und sich enthusiatische, ekstatische Gemeinschaft zwischen Akteur und Auditorium herstellte.

Die „Botschaft“ aber, um die man sich gruppierte, war à la Schopenhauer: „Es ist alles nix.“ Nestroy war der Dämon, unter dessen Wort und obszöner Gebärde sich alles höhere Streben sofort als ganz und gar nichtig erwies, sich in Lächerlichkeit und Gestank auflöste. Sein bevorzugtes Genre war die Parodie. Er nahm sich erhabene Texte, Wagners Opern, Hebbels Schicksalstragödien, und spielte sie als Posse nach. Und das vorstädtische Publikum johlte vor Vergnügen, und die Posse war ja auch wirklich gut. Hinter jeder Tragik lauert grelle Komik, man muß nur an einem geheimen Rädchen drehen, um das zu zeigen, und Nestroy wußte um dieses Rädchen und wie man daran zu drehen hatte.

Manche Besucher im Theater an der Wien oder in der Leopoldstadt, darunter allererste Geister, waren von diesem typischen Nestroyschen Rädchendrehen abgestoßen, sahen darin nichts als Anbiederung beim Pöbel und schnödestes Dem-Affen-Zucker-Geben. Aber Nestroy destruierte die Attitüden des Pöbels nicht weniger gnadenlos als die Attitüden der „höheren Stände“ und der Intellektuellen. Wer bei seinen Possen lachte, lachte stets über sich selbst, wer auch immer er sein mochte. „O, ich will euch ein furchtbarer Hausknecht sein“ - diese Drohung galt für alle.

Nestroy war nichts weniger als vormärzlicher Revolutionär, er war großösterreichischer Liberaler und Zentralist und notorischer Fortschrittsskeptiker. „Der Fortschritt hat an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.“ Mit der Zensur bekam er es nie politisch zu tun, immer nur wegen „unsittlichen Improvisierens“. Unvergänglich sein Refrain gegen die Gutmenschen aller Breiten und Zeiten: „Es gibt wenig böse Menschen, und doch geschieht soviel Unheil auf der Welt. Der größte Teil dieses Unheils kommt auf Rechnung der vielen, vielen guten Menschen, die weiter nichts als gute Menschen sind.“

Es ist merkwürdig, doch der Trost beim Lesen der Nestroyschen Sprachpointen erwächst genau aus ihrer Trostlosigkeit. Der reiche Herr von Lips im „Zerrissenen“ beispielsweise, ein Herr, der bekanntlich unter seinem Reichtum leidet und von ihm einen „ennui“ erfährt, so daß ihm nicht einmal „ein Gletscher mit schwarzem Schnee und glühenden Eiszapfen“ imponieren und aufheitern könnten, räsoniert gleichwohl vor sich hin: „Armut ist ohne Zweifel das Schrecklichste. Mir dürft’ einer zehn Millionen herlegen und sagen, ich soll arm sein dafür, ich nehmet’s nicht“. Das ist, in seiner Spannung zwischen glühenden Eiszapfen und Zehn-Millionen-Armut, derart verstörend drollig, daß man nur noch lachen kann und dauerhaft erquickt wird.

Kein Possenreißer nach Nestroy, weder in Wien noch anderswo, hat ihm je wieder das Wasser reichen können, nicht die vielen nun bald kommenden Überbrettl-Kabarettisten (Nestroy starb 1862) noch die Trash-„Komiker“, die heute die Kanäle bevölkern. Eine Ausnahme hat es vielleichts gegeben: Karl Valentin. Aber der Münchner (mit den sächsischen Ahnen mütterlicherseits) war von Natur aus selber ein Kuriosum, brauchte sich im Grunde nur gehen zu lassen. Nestroy ließ die anderen gehen, er war der Größere.


 
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