© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/01 30. November 2001

 
Putin gelingt, was Breschnew mißlang
Afghanistan: Moskaus Einfluß scheint zu wachsen / Russische Waffen für die Nordallianz von den USA bezahlt
Ivan Denes

Das „Große Spiel“, das im 19. Jahrhundert in Afghanistan zwischen den Geheimdiensten Großbritanniens und Rußlands gespielt wurde - dessen literarisches Zeugnis, Nobelpreisträger Rudyard Kiplings Roman „Kim“, bis heute eine faszinierende Lektüre bleibt - wurde in diesen Tagen neu aufgelegt. Rußland und die USA haben sich nominell verbündet, um Osama bin Laden, seine Al-Qaida und ihre Schutzmacht, das Taliban-Regime in Afghanistan, zu vernichten. Das scheinbar harmonisch funktionierende Bündnis entartete jedoch schon jetzt in einen Wettbewerb um die Zukunft Afghanistans, und Rußland scheint eindeutig der Gewinner zu sein. Wladimir Putin gelingt, ohne russische Verluste, was Leonid Breschnew und Michail Gorbatschow mißlang: in Afghanistan entscheidenden Einfluß zu gewinnen. Der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow wurde kurz nach dem 11. September, also nach den beiden als „historisch“ bezeichneten Telefonaten zwischen Putin und Bush, beauftragt, eine interministerielle Koordinationsgruppe für die Afghanistan-Aktion zu leiten, die aus Vertretern des Außen-, Verteidigungs- und Notlageministeriums, des Auswärtigen Nachrichtendienstes, des Föderalen Sicherheitsdienstes und anderer Behörden besteht. Rußland rüstete die Nordallianz massiv auf: mit T-55-Panzern, mit „Katjuscha“-Raketenwerfern, mit Schützenpanzern und sogar Hubschraubern sowie mit großen Mengen von leichten automatischen Waffen. Glaubwürdigen Quellen zufolge sollen die USA die Waffen bezahlt haben.

Iwanow ist kein Berufsmilitär - er ist ein alter KGB-Mann und operiert mit den bewährten Methoden seiner Zunft. Er ließ die von ihm kontrollierte Militärführung der Nordallianz, (d.h. deren tadschikische Komponente) den USA feierlich versprechen, sie werde nicht in Kabul einmarschieren, bis eine politische Lösung für die Zukunft Afghanistans gefunden oder eine Koalitionsregierung unter Beteiligung aller afghanischen Stämme gebildet werde. Prompt schickte Iwanow die Tadschiken in die afghanische Hauptstadt. (Erinnert es nicht an gewisse Ereignisse auf dem Flughafen von Pristina?) Dann versprach die Nordallianz, es würden lediglich Polizeiverbände in Kabul einmarschieren, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Stadt wurde aber mit tadschikischen Verbänden der Nordallianz überschwemmt. Dann wurde zugesagt, keine Regierungsinstitutionen einzurichten und keine Regierung zu bilden. Aber es wurden Ministerien besetzt, Ex-Präsident Burhanuddin Rabbani (ein Tadschike) nach Kabul zurückgebracht und als einzig legaler Staatschef anerkannt und die Außen-, Innen- und Verteidigungsminister installiert.

Auf dem Flughafen Bagram sollten 6.000 britische Soldaten landen, die Nordallianz lud sie wieder aus. Eine große russische Delegation traf in Kabul ein und Iwanow, nachdem er öffentlich zugab, daß die Russen vom Einmarsch in Kabul vorab in allen Einzelheiten informiert worden waren, kündigte an, daß das russische Militär die russische Botschaft in Kabul wiederaufbauen werde, daß die soeben eingetroffene große diplomatische Mission russischen Militärschutz bekommen werde, daß russische Techniker und Ausbilder die weiteren Waffenlieferungen begleiten werden.

Und dann kam der Versuch, nach der alten KGB-Schablone das Geschehen umzudeuten. Am 17. November erklärte Iwanow, der Sieg über die Taliban sei in erster Linie der Hilfe Rußlands zu verdanken, die US-Unterstützung aus der Luft nannte er - bagatellisierend - erst an zweiter Stelle und ergänzte sie sofort mit dem Beitrag des Iran. Tatsächlich: Bei der Einnahme Herats haben die US-Delta Force, die russische Speznatz und iranische Sondereinheiten erfolgreich zusammengewirkt; auch scheint die schiitische Hasarah-Miliz iranische Waffen bekommen zu haben.

Was Iwanow noch nicht gelernt hat: das Fernsehen in sein politisch-propagandistisches Kalkül und in die Umdeutung der Realität im Sinne der eigenen Interessen einzubeziehen. Tagelang konnten Zuschauer in aller Welt mit ansehen, wie die US-Air Force der Nordallianz den Weg freigebombt hat - einschließlich der Streubomben über die Frontlinie der Taliban, die rot-grüne Pazifisten so schrecklich empört haben. Aber zur Zeit ist in Kabul der russische Einfluß unverkennbar dominant.

Ob Rußland direkt oder über seine tadschikischen oder usbekischen Vertrauten bei dem Palaver auf dem Bonner Petersberg agieren wird, ist noch unklar. Für jemand, der während des antisowjetischen Krieges aus dem Panschir-Tal berichtet und grünen Tee mit den Kommandeuren am Lagerfeuer getrunken hat, liegt es jedoch auf der Hand, daß die Russen in einer günstigeren Position sind: Sie haben Afghanistan, um den Preis eines schweren Blutzolls, kennengelernt. Die US-Vorstellungen von Demokratie und freien Wahlen erscheinen am Fuße des Hindukusch völlig weltfremd. Die politische Zukunft des Landes wird in der Loya Dschirga (der großen Versammlung der Stammesältesten) entschieden, der Maulvi wird weiterhin das Dorf regieren, die Tradition des Gastrechts bis zum Tode und die Blutrache werden erhalten und das Gleichheitsprinzip der französischen Revolution wie das first amendment werden dort noch lange Zeit irrelevant bleiben.

Als der Autor dieser Zeilen in einem afghanischen Flüchtlingslager bei Peschawar eine Frau fotografieren wollte, wurde ich von halbwüchsigen Paschtunen beinahe gesteinigt: Das geschah zehn Jahre vor Bin Laden und den Taliban.


 
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