© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/01 30. November 2001


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Weichenstellung
Karl Heinzen

Die Entscheidung des baden-württembergischen Kultusministeriums, ab dem Jahr 2003 an allen Grundschulen des Landes zwei Stunden Fremdsprachenunterricht pro Klassenstufe einzuführen, könnte auf den ersten Blick befremden. Ganz so, als wäre die demographische Entwicklung unbekannt, wird nämlich so getan, als könne das muttersprachlich deutsche Kind weiterhin im Zentrum der Bildungspolitik stehen. Nicht erst die Zukunft, sondern bereits die Gegenwart erfordert jedoch eine realistischere Orientierung.

Kindern ausländischer Eltern wird schon heute per se eine zweisprachige All­tagsbeherrschung zugemutet, ohne daß sie dazu noch eigens der Herausforderungen des amerikanischen oder gar des französischen Sprachunterrichtes bedürften. Während einerseits toleriert oder in einer romantischen Verklärung fremder Kulturen sogar latent gefördert wird, daß sich die Einwanderer daheim in den befremdlichen und sie unserer Zivilisation noch weiter entfremdenden Idiomen ihrer Herkunftsländer, die noch dazu zumeist auch Unterdrückerländer sind, verständigen, erarbeiten sie sich im Umgang mit den Alteingesessen ihre gemeinsame Zukunft mit denselben in deren Sprache. Diese ist derzeit, so ungeduldig man auch sein mag, dies zu ändern, immer noch Deutsch.

Man versetze sich in die Lage eines betroffenen Kindes: Daheim herrschen die Eltern in vormodernen Familienstrukturen und nötigen ihm eine Sprache auf, die es eigentlich hinter sich lassen müßte, wenn es den Kopf frei für eine Zukunft ohne Not und Angst haben soll. Im institutionell erzwungenen Umgang mit den Einzelkindern der Autochthonen und in der über Lebenschancen entscheidenden Mühle eines retardierenden Bil­dungswesens muß es sich eines sterben­den Idioms bedienen, mit dem es vielleicht noch schöne Literatur des 19. Jahrhunderts im Original lesen kann, das ihm aber später im Berufsleben in einer sich mehr und mehr globalisieren­den Welt kaum noch weiterzuhelfen vermag. Und nun kommt, anstatt hier zu­nächst für Entlastung zu sorgen, auch noch eine zusätzliche Sprachbarriere auf die Stundentafel!

Diese Überforderung kann und wird - und man darf darauf vertrauen, daß dies schon heute intendiert ist - nicht das letzte Wort sein. Baden-Württemberg ist ein zukunftsfähiges und weltoffenes Land, dessen Politiker begriffen haben, daß die Bürger ökonomischen Erfordernissen Rechnung tragen müssen, wenn sie als Arbeitnehmer und Konsumenten bestehen wollen. Politik ist die Kunst des Möglichen. Wir können der Weltwirtschaft nicht vorschreiben, in welcher Sprache sie sich zu verständigen hat. Und wir können auch den Immigranten nicht befehlen, mit dem Tag ihrer Einreise nur noch Deutsch zu reden. Wir können nur uns selber ändern und sollten uns daher fragen, ob uns unsere Sprache wirklich so viel wert sein kann, wie wir immer behaupten. Bis zur Einsicht aller in das, was vernünftig ist, ist es sicher ein langer Weg. Deshalb sollten wir ihn schnell gehen.


 
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