© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/01 23. November 2001

 
Blinde Flecken der Geschichte
Eine Berliner Tagung über Vertreibung und Deportation zwischen 1938 und 1948
Jörg Bernhard Bilke

Die einladenden Organisationen wie das „Bürgerbüro Berlin“ das „Zentrum Karta“ in Warschau, das „Memorial Deutschland“ und die Schriftstellerin Freya Klier, die Historikerin Doris Liebermann, die Journalistin Margit Miosga wollten bei dem heiklen Thema neue Akzente setzen und Forschungsdesiderate aufdecken.

Schon der Titel der zweitägigen Veranstaltung in Berlin am 09./ 10. November „Blinde Flecken der Geschichte. Vertreibung und Deportation 1938 - 1948“ und das Eröffnungsreferat Freya Kliers in der Hugenottenkirche am Gendarmenmarkt verwiesen auf diese Tendenz. Es sollten Themen miteinander in Beziehung gesetzt und in neue Kontexte gestellt werden. Freya Klier drückte das, sich dabei auf Janosz Reiter, den polnischen Botschafter in Bonn bis 1996, berufend, so aus: Es gebe „zwei Geschichtsbilder, zwei nationale Wahrheiten, die über Jahrzehnte hart aufeinanderprallten - eine polnische und eine deutsche. Die polnische war geprägt vom Leid während der NS-Besatzung, die deutsche vom Verlust der Heimat, von Flucht und Vertreibung“. Diese „deutsch-polnische Blockade“, der man eine tschechisch-deutsche, russisch-polnische und deutsch-russische konstrastieren könnte, gelte es aufzubrechen. Am Beispiel Lembergs, des Schnittpunkts römisch-katholischer, russisch-orthodoxer und jüdischer Kultur konnte die Referentin alle Stichworte benennen, die für das Jahrzehnt 1938/48 bezeichnend sind. Verschleppung von Polen 1930/40 nach Sibirien, Erschießung von Juden, Polen und Ukrainern durch die Rote Armee, seit Sommer 1941 Verschleppung und Ermordung der Lemberger Juden durch die SS und Erschießung polnischer Intellektueller. Und als sie auf die von der Sowjetarmee 1945/46 vergewaltigten und verschleppten Ostpreußinnen zu sprechen kam, fragte sie: „Mit welchem Recht werden sie aus der historischen Wahrnehmung ausgeklammert? Sollte nicht endlich Schluß sein mit der Klassifikation von Opfern in solche, die man benennen und solche die man nicht bennenen darf?“

Auch daß die Tagung in der Hugenottenkirche eröffnet wurde, war von Bedeutung. Schließlich hatten die im 17. Jahrhundert aus Frankreich vertriebenen Protestanten in Preußen herzliche Aufnahme gefunden. Verbunden war dieser Abend mit einem Benefizkonzert vier junger Kammermusiker des 1990 in St. Petersburg gegründeten „Memorial“, das sich für alte und arme Überlebende des stalinistischen Terrors einsetzt. Die Tagung selbst, auf der Referate, Zeitzeugenberichte und Podiumsdiskussionen angeboten wurden fand in der Landesvertretung Thüringen statt und wurde durch einen Vertreter des Hauses eingeleitet.

Forschungen eines Tschechen bildeten ersten Höhepunkt

Leider litten die beiden ersten Zeitzeugenberichte über „sudetendeutsche Antifaschisten in der Tschechoslowakei“ von Hanns Skoutajan, der heute in Kanada lebt und wegen Krankheit nicht erschienen war und von Olga Sippel, die das Vorgelesene ergänzte, darunter, daß Selbstverständlichkeiten über sudetendeutsche Geschichte vorgetragen wurden, die vielen Zuhörern geläufig waren, während Substantielles über den Widerstand und seine Folgen kaum zu erfahren war. Ein erster Höhepunkt der Tagung war der Auftritt des 1977 geborenen Pragers Ondschej Lischka, der sich schon als Student mit dem „Brünner Todesmarsch“ der Sudetendeutschen auseinandergesetzt hat und der zum Thema sprach „Was wissen junge Tschechen über die sudetendeutsche Geschichte?“ Sein Fazit war ernüchternd. Die Geschichte dieser 1945 fast vollständig vertriebenen Volksgruppe von 3,5 Millionen Menschen kommt heute weder in den Geschichtsbüchern noch im öffentlichen Bewußtsein vor, obwohl man heute noch in Brünn Kanaldeckel findet mit der Aufschrift „Gemeinde Brünn“. Er konnte auch von den Anfeindungen berichten, denen er ausgesetzt war, weil er sich für sudetendeutsche Geschichte interessierte. Auch in der ersten Podiumsdikussion ging es um die Frage, warum der sudetendeutsche Widerstand vergessen wurde, wobei das Podium mit Olga Sippel (1920 bei Karlsbad als Tochter sozialdemokratischer Eltern geboren und 1938 nach England emigriert), mit Ursula Weißgerber (1943 als Tochter deutscher Kommunisten in Tesch-Bodenbach geboren) und Leo Sahel (Sozialdemokrat aus Kroppau), optimal besetzt war. Weiterhin vertreten waren Ondschej Lischka und der 1946 geborene Botschaftssekretär Zdenek Aulicky, Vertreter des offiziellen Prag, der heftig bestritt, daß man in Tschechien nichts wisse von den Sudetendeutschen.

Peter Jahn, Leiter des „Deutsch-Russischen Museums“ in Berlin-Karlshorst, referierte über die Vertreibung von Polen und die Umsiedlung von „Volksdeutschen“ aus dem Baltikum und Rumänien 1939/40 und bot Fakten über ein heute fast vergessenes Kapitel deutsch-polnischer Geschichte. Die gewaltige Umsiedlungspolitik der Nationalsozialisten, in den Westgebieten Vorkriegspolens unter Himmlers Verantwortung betrieben, blieb zum Glück Stückwerk und die im Wartheland angesiedelten Deutsch-Balten mußten 1944/45 die Flucht antreten. Den Gegenvortrag über die „Deportation deutscher Saatsbürger 1940/41 in die Sowjetunion“ bot der Moskauer Historiker Alexander Goreanow, der daran erinnerte, daß die Notwendigkeit einer „Vergangenheitsbewältigung“ zwischen Russen und Polen bis heute in Rußland geleugnet werde, obwohl 1939 mehr als die Hälfte Vorkriegspolens von der Sowjetunion annektiert worden sei. Auch für dieses Thema liegt in russischen Archiven noch eine Fülle unerschlossenen Materials. Höchst beeindruckend war deshalb die Aussage der Zeitzeugin Bronislawa Kowalska aus Wolhynien, heute im pommerschen Köslin lebend. Die 1949 mit ihren Eltern und Geschwistern nach Sibirien verschleppt worden war und die beim Berichten mit den Tränen kämpfte, wie am Tag darauf die Breslauerin Hannelore Aebi, die nach dem Tod ihrer Großeltern im westpreußischen Thorn mehrere Jahre im polnischen Konzentrationslager Potulitz verbringen mußte.

Fehlende Sprachkenntnisse erschwerten das Gespräch

Was freilich als Podiumsdiskussion ausgewiesen war, zeigte sich als mühsames Übersetzungsgeschäft weil drei der vier Teilnehmer der deutschen Sprache nicht mächtig waren. Lediglich die russische Jüdin Dora Kacnelson, 1921 in Polen geboren, bemängelte die ausbleibende Diskussion und stimmte in jüdisch gefärbtem Deutsch ein Klagelied auf das untergegangene Königsberg an. Das schlimme Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener im Dritten Reich und nach der Heimkehr in die Sowjetunion, worüber Pavel Polian aus Moskau sprach, war ein Thema, das wohl außerhalb der Tagungsthematik angesiedelt war, während der Warschauer Historiker Jerzy Kochanowski ausführlich auf das Schicksal „Deutscher im polnischen Lager 1944-1948“ einging und damit ein Thema aufgriff, das die Anwesende Helga Hirsch bereits in ihrem Buch „Die Rache der Opfer. Deutsche in polnischen Lagern 1944-1950“ (1998) behandelt hatte, das aber immer noch viel zu wenig bekannt ist. Was damals in diesen Lagern, etwa Lamsdorf in Schlesien oder Potuitz in Westpreußen, an Verbrechen gegenüber wehrlosen Kindern, Frauen und alten Menschen begangen wurde, steht dem schlimmen Schicksal von Polen in deutschen Konzentrationslagern in nichts nach. Aus besonderem Blickwinkel berichtete die 1939 geborene Polendeutsche Martha Kent, die 1952 mit ihren Eltern nach Kanada ausgewandert war und heute als Neurologin in Arizona lebt, über ihr Lagerleben als Kind in Potulitz. Sie mußte erst mühsam ihre Sprache wiederfinden, um über das ihr zugefügte Leid schreiben zu können. Aber ihr 1995 abgeschlossenes Buch hat bis heute keinen Verleger gefunden. Der letzte Vortrag, gehalten von dem Berliner Psychologen Marius Fiedler über „Das Schweigen der Überlebenden“ brachte wissenschaftliche Ordnung in die gegensätzlichen Zeitzeugenaussagen. Der Unterschied zwischen dem Schweigen der Opfer und dem der Täter sprach überzeugend über vergewaltigte Frauen und ungeliebte Täterkinder, die dennoch Zuneigung beanspruchten und später oft „Helfende Berufe“ ergriffen hätten. Ein unendliches, kaum erschöpfbares Thema. Das „Offene Zeitzeugengespräch“ am Ende der Veranstaltung zeitigte wenig Erkenntnisgewinn. Daß die Polen in Frauenburg für die 1945 im Frisischen Haff ertrunkenen Flüchtlinge aus Ostpreußen ein Denkmal errichtet hatten, wußte man schon.

Daß man nun endlich auch über die deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung, über den gewaltigen Verlust an deutscher Geschichte und Kultur trauern darf, was Helga Hirsch anmahnte, war eine Selbstverständlichkeit. Leider noch nicht selbstverständlich war, daß im Tagesprogramm die Städtenamen Brünn und Köslin nur in tschechischer (Brno und in polnischer Koszalin) Sprache genannt wurden, obwohl es an anderer Stelle „Moskau“ und „Prag“ hieß. Aber das war wohl auf die noch nicht überwundene DDR-Befangenheit der beiden Mitveranstalterinnen Freya Klier und Doris Liebermann zurückzuführen.


 
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