© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/01 23. November 2001

 
Abwärts mit Politik der ruhigen Hand
Jahreswirtschaftsgutachten: „Für Stetigkeit - gegen Aktionismus“ / Rot-grüne Selbstgefälligkeitsinterpretation
Bernd-Thomas Ramb

Dem Jahresgutachten 2001/02 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirt-schaftlichen Entwicklung droht wieder einmal das Versinken in der Bedeutungslosigkeit. Entgegen der in den letzten Jahren meist praktizierten Methode, die wirtschaftspolitischen Empfehlungen der „fünf Weisen“ nach einer kurzen, unverbindlichen Kenntnisnahme weitgehend kommentarlos in den Tiefen der Aktenablage verschwinden zu lassen, wird diesmal den Sachverständigen zuvor noch kurzerhand das Wort im Mund herumgedreht.

Der Rat „stützt insgesamt den bisherigen wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs der Bundesregierung“, meint das Bundesfinanzministerium. Die Selbstgefälligkeitsinterpretation beruft sich insbesondere auf den Titel des Gutachtens „Für Stetigkeit - gegen Aktionismus“ und die konkrete Einschätzung des Rates: „In der gegenwärtigen Situation besteht keine Notwendigkeit für ein Konjunkturprogramm, vielmehr überwiegen die größtenteils in der Zukunft liegenden Gefahren einer aktivistischen Wirtschaftspolitik.“ Der Sachverständigenrat bezieht damit eine Gegenposition zu der einige Wochen zuvor geäußerten Einschätzung der Wirtschaftsforschungsinstitute, die zu einer staatlichen Höherverschuldung zur Konjunkturankurbelung rieten. Den Widerspruch des Sachverständigenrats legt die rot-grüne Bundesregierung nun als Bestätigung ihrer „Politik der ruhigen Hand“ aus.

Das Gutachten der Sachverständigen enthält jedoch bei genauem Lesen eine durchaus heftige Kritik an der aktuellen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die Forderung der Stetigkeit ist keine Einladung zum Stillstand, wie die Ablehnung des Aktionismus auch keinesfalls eine Aufforderung zur Tatenlosigkeit bedeutet. Anlässe für eine gründliche Revision der wirtschafts- und finanzpolitischen Grundkonzepte und Projekte sind mehr als genug vorhanden. So wird sich, nach Ansicht des Sachverständigenrats, die deutsche Wirtschaft in diesem und vor allem im kommenden Jahr weitaus schlechter entwickeln, als die Wirtschaftsinstitute und insbesondere die Bundesregierung es erwarten. Die Wachstumswerte des Bruttoinlandsprodukts bewegen sich im Nullbereich (0,6 Prozent in diesem, 0,7 Prozent im nächsten), wobei sich die kommende Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts praktisch nur noch auf die vermutete Zunahme der Inlandnachfrage stützt. Die Exporte sinken auf die schlechtesten Zahlen seit fünf Jahren. Dementsprechend pessimistisch sind die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt. Einer leichten Zunahme der Erwerbstätigen in diesem Jahr um 35.000 steht ein Absinken im nächsten Jahr um 80.000 Beschäftigte entgegen. Die Arbeitslosenquote steigt folglich von 9,4 auf 9,7 Prozent im Wahljahr 2002. Dagegen ist die Vorhersage der Inflationsraten eher als optimistische Sicht einzustufen. In diesem Jahr werden die Preise mit Sicherheit um 2,5 Prozent steigen. Ob aber im kommenden Jahr der Preisauftrieb auf nur 1,5 Prozent gebändigt werden kann, steht in den Sternen.

Damit eng verbunden sind die Prognosen zur Staatsverschuldung. Der Sachverständigenrat setzt dabei das Finanzierungssaldo des Staates, berechnet aus den Gegenüberstellungen der Steuereinnahmen und öffentlichen Ausgaben in Bund, Ländern und Kommunen sowie der Haushaltsdefizite der staatlichen Sozialversicherungen, in Relation zum Geldwert des Bruttosozialprodukts. In dieser Abgrenzung wird für das laufende Jahr ein Finanzierungsdefizit von 2,5 Prozent und im nächsten Jahr eines von 2,3 Prozent erwartet. Die Zahl des kommenden Jahres könnte sich noch verbessern, wenn die Inflation über den erwarteten Wert von 1,5 Prozent steigt. Die Staatseinnahmen richten sich nämlich nach dem nominalen Bruttoinlandprodukt, das heißt der Staat verdient an jeder Preissteigerung mit. Genau auf diesen Effekt vertraut auch die jüngste Schätzung der Steuereinnahmen des Jahres 2002, die von einem nominellen Wachstum von drei Prozent ausgeht. Wenn aber der reale Wert des Bruttoinlandsprodukts tatsächlich nur um 0,7 Prozent steigt und die Inflationsrate wirklich bei 1,5 Prozent verharrt, ist die optimistische Steuerschätzung hinfällig, da dann der Geldwert des Brutto-inlandprodukts nur um 2,2 Prozent wächst. In diesem Falle muß der Bundesfinanzminister ein größeres Loch mit dem Verkauf von Vermögenswerten stopfen, ganz zu schweigen von den nochmals gestiegenen Finanzierungsnöten der Länder und Kommunen.

Das Gutachten des Sachverständigenrats mahnt daher zu Recht die sofortige Inangriffnahme wirtschaftspolitischer Reformvorhaben an. Auch wenn der zeitlichen Vorziehung der geplanten Steuerreform formell eine Absage erteilt wird, für die strukturellen Reformen vor allem auf dem Arbeitsmarkt wird höchste Eile attestiert. Die Auffassung der Bundesregierung, mit dem umstrittenen „Job-Aqtive“-Vorhaben sei auf diesem Gebiet vorerst genug geleistet, geht an der Meinung des Sachverständigenrats weit vorbei. Gleiches gilt für die Interpretation, das Gutachten würde die Finanzpolitik der Regierung generell bestätigen. Bei der Reform des Länderfinanzausgleichs wird die vertane Chance moniert, bei der Konsolidierung der Staatshaushalte die konsequente Fortsetzung und die nachhaltige Sicherung anmahnt. Daß die amtierende Regierung, vor allem in ihrer momentanen Phase, diese Versäumnisse eher übersieht und sich auf die geschönte Interpretation selektierter Gutachtenpassagen beschränkt, mag aus parteipolitischen Opportunitätsüberlegungen nachvollziehbar sein, doch wo bleibt die Opposition mit einer kraftvollen programmatischen Umsetzung der Stichpunkte, die das Gutachten des Sachverständigenrats mundgerecht bietet?


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen