© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   48/01 23. November 2001


Macht um jeden Preis
Ob mit oder ohne Grüne, der Kanzler will sich durchsetzen
Paul Rosen

Wetten, wie lange das rot-grüne Projekt noch hält, werden in Berlin nicht mehr angenommen. Zu knapp war die Mehrheit für Kanzler Gerhard Schröder bei der Vertrauensabstimmung am 16. November, als daß sich aus den zwei Stimmen über der Kanzlermehrheit noch eine Stabilität des Schönwetter-Bündnisses herauslesen lassen könnte. Altgediente Beobachter fühlen sich an einen Schröder-Vorgänger erinnert: Helmut Schmidt stellte 1982 die Vertrauensfrage und gewann die Abstimmung. Trotzdem war die sozialliberale Koalition wenige Monate später am Ende.

Noch ist ungewiß, was Schröder einen Tag vor der Vertrauensabstimmung bewogen haben mag, nicht mehr alles auf eine Karte zu setzen, eine Niederlage bei der Abstimmung und damit Neuwahlen zum Bundestag herbeizuführen. Dazu hatten ihm die „konservativen“ Seeheimer, die Nachfolgeorganisationen der legendären Kanalarbeiter in der SPD-Bundestagsfraktion, geraten. Statt dessen setzte Schröder alle Mittel ein, eine eigene Mehrheit zu erreichen, was knapp gelang. Seitdem ist Schröder wieder auf rot-grünem Kurs: Nur dieses Bündnis habe die Kraft, den Reformkurs fortzusetzen und das Land zu erneuern, sagte der Kanzler in seiner Eröffnungsrede auf dem Nürnberger SPD-Parteitag. Die gewonnene Vertrauensabstimmung sei ein Signal, weiter die Verantwortung für Deutschland zu behalten.

Doch von Kraft der Koalition kann eigentlich keine Rede mehr sein. Zwar braucht Schröder nach der gewonnenen Abstimmung über die Vertrauensfrage, die die Bereitstellung von Bundeswehr-Einheiten zur Unterstützung der USA einschließt, bis zur Bundestagswahl eigentlich nur noch bei der Verabschiedung des Haushaltes 2002 eine Mehrheit im Bundestag, doch bei jeder Veränderung der weltpolitischen Lage, etwa anderen oder zusätzlichen Anforderungen der USA an die Bundeswehr, käme das Thema Afghanistan-Einsatz sofort wieder auf die Tagesordnung. Die Zitterpartie um eigene Mehrheiten begänne von neuem.

Vorher muß Schröder, der sich jetzt auf die Weiterführung der Koalition festgelegt hat, ein weiteres Mal zittern: Auf der Bundesversammlung der Grünen am Wochenende in Rostock droht die Fortführung des Streits um den Einsatz der Bundeswehr, der die Bundestagsfraktion der einstigen Pazifistenpartei fast gespalten hätte. Führende Grüne versuchen bereits, die Bedeutung des Treffens herunterzuspielen. Selbst wenn der Parteitag dem Beschluß des Bundestages, deutsche Soldaten zur Unterstützung der USA bereitzustellen, nicht folge, bedeute dies nicht das Ende der Berliner Koalition, ließ die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth wissen. Tatsächlich sind die Ero-sionserscheinungen an der Basis der Grünen unübersehbar: Zahlreiche Gründungsmitglieder haben die Partei inzwischen verlassen. Allerdings stehen die Funktionäre in Rostock vor einer für sie nicht einfachen Frage: Entweder Rückkehr zu den Wurzeln und Ursprüngen der Partei zu Fuß oder die Weiterfahrt im bequemen, allein von Schröder gesteuerten Dienstwagen.

Die Hilflosigkeit, die Schwächung der Grünen wird an der Argumentation der Partei in diesen Tagen deutlich. So gab Frau Roth als Grund für die Weiterführung des Bündnisses an, der von Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) geplante Verkauf von ausgedienten Waffen ins Ausland habe nur vom grünen Außenminister Joschka Fischer gestoppt werden können. Die Wahrheit ist aber, daß Fischer den in der Nato üblichen Waffenverkauf nicht stoppen, sondern allenfalls verzögern kann. Und es ist auch eine Tatsache, daß deutsche Rüstungsexporte nie so hoch waren wie zu Zeiten dieser Koalition.

„Die Grünen werden nach Anwendung dieses pädagogischen Rohrstocks auch folgsam sein“, bemerkte der FDP-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Gerhardt noch vor der Abstimmung in seiner Rede. Dennoch besteht Schröders Strategie offenbar darin, die Grünen nicht hinauszuwerfen, sondern, wie CDU/CSU-Frak-tionschef Friedrich Merz sagt, „plattzumachen“. Dies hat Vorbild und Tradi-tion: Zu seiner Zeit als Ministerpräsident in Niedersachsen ärgerte Schröder den grünen Koalitionspartner bis aufs Blut. Nach einigen Jahren waren die Bürger die Grünen satt und statteten Schröder mit der für eine Alleinregierung notwendigen Mehrheit aus. In diesem Sinne und vor diesem Hintergrund richtete Schröder in Nürnberg Warnungen an die Grünen: sie müßten schon die Frage beantworten, ob sie sich auf die Wirklichkeit einlassen wollen. Schröder: „Verdrängung und Nostalgie sind nicht geeignet, Deutschland zu regieren.“

Auf seinem Parteitag hat sich Schröder jedenfalls mit seiner Strategie durchgesetzt, auch wenn das Wiederwahl-Ergebnis in Nürnberg mit 88,6 Prozent für eine Alleinkandidatur eines Regierungschefs nicht gerade berauschend war. Vor zwei Jahren, als Schröder unter dem Verdacht der „sozialen Schieflage“ stand und Scharping sich noch als Reservekanzler fühlte, hatte der Kanzler auf dem Parteitag in Berlin 86 Prozent bekommen. Zum Vergleich: Schröders potentieller Herausforderer, der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Edmund Stoiber, wurde vor zwei Jahren auf dem Höhepunkt der damaligen und heute vergessenen LWS-Affäre, in der Stoiber mit dem Vorwurf konfrontiert wurde, für Verluste der Landeswohnungsbaugesellschaft in Höhe von 500 Millionen verantwortlich zu sein, mit 90 Prozent im Amt bestätigt. Vor wenigen Wochen in Nürnberg bestätigten die CSU-Delegierten ihn mit prachtvollen 96 Prozent.

Schröder geht mit dem jetzt eingeschlagenen Kurs ein hohes Risiko ein: die Bundestagswahlen dürften, einen reibungslosen Ablauf des Grünen-Parteitages und keine neuen Anforderungen der USA vorausgesetzt, erst im September nächsten Jahres stattfinden. Das ist aus heutiger Sicht ungünstiger als Neuwahlen im Februar 2002. Denn im Herbst werden die militärischen Auseinandersetzungen möglicherweise nicht mehr die entscheidende Rolle spielen, wohl aber die steigenden Arbeitslosenzahlen - von den noch 1998 angekündigten drei Millionen minus x wird kaum noch gesprochen -, die Schieflage aller Sozialsysteme und der ruinöse Bundeshaushalt.

Trotzdem bleibt Schröder weiter Kanzler: Er kann die Grünen, denen weitere Verluste vorausgesagt werden, jederzeit - also mit oder ohne Wahlen zum Bundestag - in die Wüste schicken; FDP-Chef Guido Westerwelle lief sich in der letzten Woche für eine Neuauflage der sozialliberalen Koalition schon warm. Das eigentliche Drama besteht darin, daß es keinen wirklichen bürgerlichen Herausforderer gibt. Die CDU ist zu schwach, die CSU zu bayerisch.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen