© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/01 16. November 2001

 
Mit Heidegger in neue Höhen
Das Erbe der deutschen Philosophie: Eine Konferenz der Martin-Heidegger-Gesellschaft in Halle
Werner Veith

Wer den Weg von Stuttgart über Nürnberg nach Jena fährt, der wandert auf den Spuren Hegels. Diesen Weg sind andere schwäbische Denker vorangegangen, etwa Schiller und Hegels Studienfreund Schelling, die dem Ruf Goethes an die Universität Jena gefolgt sind. Hegel und Schelling trafen hier Fichte, mit dem sie zusammen die wichtigsten Systeme des deutschen Idealismus entwickelten.

In ihren Ideen verbindet sich schwäbische Gelehrsamkeit mit mitteldeutschem Denken, wie es in Schulpforta gelehrt wurde, jener Eliteschule, die nicht nur Fichte, sondern später auch Nietzsche zu ihren Schülern zählte. Schulpforta liegt im Saaletal, dort wo sich an den letzten Ausläufern der Mittelgebirge rund um Naumburg und Freyburg das nördlichste Weinanbaugebiet Deutschlands befindet. Fährt man hier weiter gen Norden, verschwinden die Hügel und es beginnt eine Tiefebene, die sich im Norden bis zur Ostsee und im Osten bis zum Ural erstreckt.

An ihrem westlichen Rand war Philipp Melanchthon, wie Hegel und Schelling aus Tübingen kommend, Professor in Wittenberg. Als Berater Martin Luthers hat er nicht nur für die Reformation gestritten, die in dieser Landschaft ihren Ursprung hat, sondern zusammen mit dem Reformator eine Tradition des Denkens begründet, die über Immanuel Kant und die deutschen Idealisten noch bis heute wirkt. Die Forderung der Aufklärung, den Verstand zu gebrauchen, findet sich hier bereits ebenso wie der Ausgangspunkt der Ethik von Kant, der in der Lutherschen Rechtfertigungslehre zu sehen ist.

Diesen großen historischen Bogen hat Manfred Riedel anläßlich der 11. Tagung der Martin-Heidegger-Gesellschaft in Halle geschlagen. Die Konferenz fand aus Anlaß des 500jährigen Jubiläums der Universität Halle-Wittenberg erstmals nicht im schwäbischen Meßkirch, sondern in Halle statt. Ihr Thema: „Heideggers Zwiegespräch mit dem deutschen Idealismus“. Die Wahl des Ortes der Tagung hat bereits programmatischen Charakter: Die Philosophie Martin Heideggers wurde in der Tradition gesehen, die von den antiken Griechen zu den Humanisten und von dort über die Reformation zu den deutschen Idealisten führt. Heidegger wurde so zum Bestandteil der universal ausgerichteten abendländischen Philosophie erklärt.

Das ist deshalb bemerkenswert, da kaum ein anderer Philosoph der Neuzeit so in seiner Heimat verwurzelt war wie Heidegger in Südbaden. 1889 in Meßkirch geboren, lehrte er lange Zeit in Freiburg und blieb Zeit seines Lebens mit seiner Heimat eng verbunden. Mit seinem Frühwerk „Sein und Zeit“, das in Halle 1927 erschien, wurde er weltberühmt. In „Sein und Zeit“ entziffert er die Geburt eines Menschen als Geworfenheit in die Welt, in eine Umgebung, die wir uns nicht aussuchen können. Dadurch ist aber unser Leben noch nicht endgültig festgelegt. Wir können unser Dasein gestalten, und sehen uns auch dazu gezwungen, weil wir - anders als Pflanzen und Tiere - um den Tod wissen. Heidegger diagnostiziert jedoch eine Verfallenheit an das „Man“, in der die Todesgewißheit durch Zeitgeist und schillernde Konsumwelt verdrängt wird. Nach „Sein und Zeit“ gibt Heidegger diese Konzeption auf. Er versteht in seinem späteren Werk das Sein zunehmend als etwas, das vom Dasein nicht erschlossen werden kann, weil es sich dem menschlichen Erkennen entzieht. In den Jahren nach 1927 setzt sich Heidegger besonders mit dem deutschen Ideaslismus auseinander. Hierauf lag der Schwerpunkt der Tagung in Halle.

Deutlich wurde, daß Heidegger bewußt an die idealistische Tradition anschließt, sie aber auf die Frage zuspitzt, wie das Sein des Seienden (die Ursache der Welt und des Lebens) gedacht ist. Dabei beschreitet er im Gegensatz zu Hegel einen ganz anderen Weg: Während Hegel das Endliche überwinden will, also den Tod ignoriert und zur Ewigkeit vordringen will, radikalisiert Heidegger unsere Endlichkeit. Der Tod ist der Angelpunkt seines Denkens, wie Jean Grondin aus Montreal (Kanada) in seinem Vortrag zeigte.

Claudius Strube aus Wuppertal betonte die Technikkritik im Spätwerk Heideggers. Technik werde oft als Universalmedizin für die Probleme der Menschheit präsentiert. Zwar hätten wir die Wahl zwischen einzelnen Technologien oder Computerprogrammen, aber nicht mehr die Freiheit, auf die Technik als Ganzes zu verzichten. „Spätestens bei medizinischen Erfindungen verstummen die meisten Kritiker der Technik“, so Strube. Der technische Fortschritt entspringe nicht nur den äußeren Konkurrenzzwängen, sondern sei inzwischen auch ein innerer Zwang der menschlichen Seele nach dem ewigen Leben.

Manfred Riedel, Präsident der Heidegger-Gesellschaft, prophezeite: „Die internationale Wirkung des späten Heideggers stehe noch bevor.“ Er kündigte eine Fachkonferenz zu Heideggers Nachdenken über die Technik in den nächsten Jahren an. Es gibt also keinen Grund, Heidegger als Provinzgeist lächerlich zu machen, der auf seiner Hütte im Schwarzwald vor sich hingrübelte.

 

Die Tagungsvorträge erscheinen unter dem Titel „Heideggers Zwiegespräch mit dem deutschen Idealismus” im Böhlau Verlag. Hörbücher: „Heidegger liest Hölderlin“ und Martin Heidegger „Der Satz der Identität“ (jeweils Klett-Cotta, Stuttgart). Informationen der Heidegger-Gesellschaft finden sich im Internet unter www.heidegger.org .


 
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