© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/01 16. November 2001


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Jugendkultur
Karl Heinzen

Stefan H. aus Neumünster wird beschuldigt, an seinem 30. Geburtstag 30 mit Gips gefüllte Pakete in seiner Nachbarschaft verteilt und damit den ersten bundesweiten Milzbrandalarm ausgelöst zu haben. Die durch die Ereignisse von New York anspruchsvoll gewordene Öffentlichkeit durfte für einen kurzen Augenblick hoffen, vom internationalen Ter­rorismus eines Anschlags für wert be­funden worden zu sein. Das Robert-Koch-Institut hat ihr dann aber einen Strich durch die Rechnung gemacht und herausgefunden, daß die Pakete wider Erwarten doch Gips und nicht den biologischen Kampfstoff Anthrax enthielten. Dieser war für den Delinquenten im Baumarkt um die Ecke nämlich nicht erhältlich.

Oberstaatsanwalt Uwe Wick will hart durchgreifen, denn Stefan H. ist kein Vorbild. Er ist Sozialpädagoge und ar­beitslos. Er hat lange Haare und, soweit bekannt ist, kein Piercing. Eine ehemalige Arbeitskollegin hält ihn für politisch links orientiert. Er wohnt bei seinen Eltern unter dem Dach. Wahr­scheinlich hat er nicht einmal gewußt, daß auch Menschen wie er bei „attac“ An­schluß finden und die Einführung der Tobin-Steuer als ihr Anliegen entdecken können.

Richtig gemacht hat es Shaham (22) aus Heidelberg. Er hat das „TV-Mammut-Casting“ von RTL 2 geschafft und wird nun gemeinsam mit Indira, Hila, Ross, Faiz und Giovanni Popstar werden. „Bros’Sis“, die Abkürzung steht für „Brothers and Sisters“, werden schon am 3. Dezember ihre erste Single „I be­lieve“ auf den Markt bringen, wo sie sicherlich auch hingehört. Vany (22) von den „No Angels“ rät den unter 11.000 Mitbewerbern ausgewählten Künstlern, auch im Erfolg auf dem Teppich zu bleiben. Shaham wird dies nicht schwer fallen. Er ist Rapper und kennt daher das Leben. Seine Hobbys sind fremde Kulturen (Asien) und Frauen. Deshalb wünscht er sich eine Welt ohne Rassismus. Für diese hätte er auch mit der Bundeswehr kämpfen können, wenn er damals dabei geblieben wäre. Nicht zuletzt für seine Pythonschlange ist es aber am besten, daß es dazu nicht gekommen ist. Shaham hat auch einen Künstlernamen: „The Loc“. Damit er ihn nicht vergißt, hat er ihn auf seinen linken Unterarm täto­wieren lassen.

Zwei Karrieremuster, zwei Generationen, zwischen denen kaum noch eine Verständigung möglich ist. Dort der Ewigge­strige mit den Ansichten und der Ästhetik eines vergangenen Jahrhunderts. Hier der Lebens- und Marktbejahende, der sich in der Konkurrenz zu behaupten vermag. Sicher, es gibt heute viel we­niger junge Menschen als noch vor zehn Jahren, und unsere Gesellschaft kämpft daher nicht allein im Fußball um jedes Talent. Es wird den Jugendlichen aber auch nichts geschenkt. Sie spüren den Druck, es in ihrer Freizeitorientierung nicht an der nötigen Ernsthaftigkeit mangeln zu lassen. Nur wer sich als Konsument bewährt, erwirbt das Ver­trauen, nach dem Grad seiner Anpassung mit Führungsaufgaben betraut zu werden.


 
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