© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/01 09. November 2001

 
Die Jugendbewegung war nicht käuflich
Interview: Fritz-Martin Schulz, Bundesleiter des Nerother Wandervogel, über ein zeitloses Ideal
Christian Anders

Herr Schulz, wie stehen Sie zu Gedenkfeiern aus Anlaß der Wandervogelgründung vor hundert Jahren?

Schulz: Schon vor fünfzig Jahren hat Hans Blaher zu diesem Thema spöttisch formuliert: Wer vom Wesen einer Sache nichts versteht, der kann sich beim Publikum doch immer die Gloriole wahrer Erleuchtung verschaffen, wenn er davon redet, wann sie passiert ist. Dem ist nichts hinzuzufügen. Mir flatterte eine Einladung zu einem Erinnerungsabend in Steglitz ins Haus, in der sich ein linker Soziologe als Festredner anbietet. Das ist schon mehr als peinlich. Es dokumentiert auch den Tod der Folgebünde des Wandervogels, sofern sie sich einer solchen Peinlichkeit nicht entziehen. Unsere bloße Existenz mag Gedenken genug sein. Das Gründungsdatum nach Aktenlage bedeutet gar nichts.

Ist Ihre Existenz denn ein Beleg dafür, daß der Wandervogel auch in seinen Inhalten ungebrochen fortlebt?

Schulz: Wir betrachten uns nicht als Fortsetzung, sondern als Frucht einer vergangenen Bewegung. Der Wandervogel war ein einmaliges Ereignis, gebunden an seine Zeit und an das Lebensgefühl derer, die ihn trugen. Wir sind dankbar für unsere Herkunft und wir bekennen uns dazu ohne Einschränkung. Aber wir übersehen auch nicht die Veränderungen, die zum Niedergang der jugendbewegt geprägten Bünde geführt haben.

Können Sie das konkretisieren? Welche Veränderungen halten Sie denn in diesem Bereich für wesentlich?

Schulz: Nach 1945 hat der Staat die organisierte Jugend gekauft. Die Millionen aus dem Bundesjugendplan haben sie nicht nur in die amtlicherseits gewünschten Strukturen gezwungen, sie haben auch parasitäre Verwaltungsapparate wuchern lassen, in denen die Verteilung der Pfründe unter Genossen einen hohen Stellenwert besitzt. Das hat zu einer Inkompetenz geführt, die jede positive Wirkung schon im Ansatz vernichtet. Da tobt sich eine Heerschar von Funktionären aus, die enorme Geldmittel verschleudert, indem sie Probleme verwaltet, statt sie zu lösen. Der Staat reagiert auf neue Probleme mit der Schaffung neuer Stellen. Und die Stelleninhaber sind bereit, auch ideelle Inhalte zu verändern, wenn es der Sicherung ihrer materiellen Existenz förderlich ist. Wer an der Futterkrippe des Staates frißt, wird im Bereich jugendlicher Problematik unfähig zu jeder Reform.

Nun haben sich aber Bünde wie der Ihre immer die Unabhängigkeit gewahrt, da kann doch diese Veränderung nicht die einzige sein, die sich wesentl ich auswirkt?

Schulz: Eine Veränderung ganz allgemeiner Art ist die Nivellierung bei den Gymnasien. Der Wandervogel war auch ein Kind des humanistischen Gymnasiums. Wenn heute ein Oberschüler mit dem Abitur seine Schule verläßt, dann weiß er wenig über deutsche Literatur und deutsche Geschichte. Er verliert den Zugang zur deutschen Kultur und damit auch den Zugang zu einem Antrieb, der die Wandervogelbewegung, in ihrem Streben zu geistiger Erneuerung, durchdrungen hat. Kulturelle Zugehörigkeit ist eine Voraussetzung für die Nähe zum historischen Wandervogel. Eine andere Veränderung, die den Nachwuchs betrifft, ist der Geburtenrückgang in Deutschland und die durch den Wohlstand vorgegebene Erziehung mit Einzelkindcharakter. Und dann noch etwas ganz Wesentliches: Die historische Jugendbewegung war immer von starken Persönlichkeiten mit Führungsbereitschaft getragen. Diesen Typ bringt unsere Gesellschaft zunehmend weniger hervor.

Noch ein Wort zur Subventionierung. Die hat es ja in der Kaiserzeit noch nicht gegeben. Hat sich der Wille zum Eigenleben damals nicht auch an einem starken Gegensatz zum bestehenden Staat entzündet?

Schulz: Ganz sicher nicht, wenn das politisch gemeint ist. Der Wandervogel erfuhr ja durchaus Unterstützung durch Elternhäuser und Teile der Öffentlichkeit. Der romantische Aufbruch wurde gesehen und bejaht, das eigentlich Revolutionäre der Bewegung wurde von der Erwachsenenwelt gar nicht wahrgenommen. Im übrigen war die Monarchie in vielen Bereichen viel offener und toleranter als man ihr heute gerne nachsagt. Der Wandervogel der Frühzeit hat sich aber auch selbst noch nicht als breite Erneuerungsbewegung verstanden. Das kam erst nach dem ersten Weltkrieg.

Kann man sagen, daß der Wandervogel der Kaiserzeit im romantischen Aufbruch lebte und erst die Bündische Jugend in den zwanziger Jahren politisch wurde?

Schulz: Ich bezweifle die politische Zuordnung auch für die Bündische Jugend, jedenfalls in ihrer Gesamtheit. Politik hat ja mit Staatsbekenntnis oder Staatsverneinung oder Parteien zu tun. ln den Bünden wurden menschliche Werte gelebt. Das machte ein Neben- und Miteinander gegensätzlicher Vorstellungen möglich. Die Übereinstimmung lag eher in der Ahnung von der drohenden Gleichmachung des Menschen durch die Technik und im Willen dagegen aufzubegehren. Tragend waren noch immer die Inhalte der Meißner-Formel: Eigenverantwortlichkeit, Selbstbestimmung, innere Wahrhaftigkeit. In der Definition der Ziele kam man ja auch in den zwanziger Jahren über eine allgemeine Formulierung nicht hinaus. 1924 gab es den Gedanken der Zusammenfassung aller Bünde in einem Hochbund. Der Verfaßungsentwurf sprach lediglich von einem „neuen Menschenbild“ und von der „Erneuerung von Herz und Geist“.

Woran sind die Versuche zur Zusammenfassung der Bünde gescheitert?

Schulz: An der Natur der Sache. Wer die Einzelpersönlichkeit bejaht, der muß nicht nur den Unterschied, sondern auch den Gegensatz miteinander versöhnen können. Das reicht eben nur für eine gemeinsame Willenserklärung ganz allgemeiner Art. Die Ausformung von Strukturen hätte mehr als nur das Menschenbild berührt. Das hätte unüberwindbare Gegensätze geschaffen. Aber das Vorbildliche an der deutschen Jugendbewegung ist ja gerade dieses Bekenntnis zum Menschen, mit der notwendigen Distanz zur Politik. Da unterscheidet sie sich ja auch so stark von den sogenannten „68ern“. Letztere hatten den Marxismus als Ersatzreligion, der jugendbewegte Mensch hatte ein Ethos. Der Jugendbewegte war nicht käuflich.

Wenn Sie das Scheitern der 68er und deren Käuflichkeit unterstellen, dann werden Sie dabei auch einen Beleg zur Hand haben?

Schulz: Sogar einen ganz typischen Beleg aus unserem ureigenen Bereich. Das Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein wurde durch den Idealismus alter Wandervögel aufgebaut. Als es stand, wurde es systematisch durch ideologisierte 68er vereinnahmt und die Zielrichtung war eine Jugendbildungsstätte mit ideologischem Hintergrund. Daß läßt sich auch an den Publikationen ablesen, die die historische deutsche Jugendbewegung fortan als bürgerliche Jugendbewegung abqualifizierten und der Arbeiterbewegung einen neuen Schwerpunkt gaben. Das war auch, nach sozialistischer Geschichtsauffassung, die Unterteilung in Böse und Gut. - Und im Endergebnis steht heute die staatsanwaltschaftliche Ermittlung wegen der Veruntreuung von Spendengeldern und der Archivleiter sitzt wegen Mordes an seiner Sekretärin in Untersuchungshaft.

Neben dem ideellen Menschenbild des Wandervogels spielte das Naturerlebnis eine wesentliche Rolle. Ist das auch heute noch für Sie ein entscheidendes Merkmal?

Schulz: Fahrt und Leben in der Natur, daneben Musik und Gesang, sind unsere traditionellen Mittel. Unsere Fahrten sind weltweit angelegt und haben mitunter extremen Charakter. Sie sind häufig Wildnisfahrten mit hohem Risiko, Askese ist also durchaus auch bestimmend. Mit Freizeitbeschäftigung hat das nichts zu tun, wir erzielen Wirkung. Ich könnte das so verdeutlichen: Wer seine Jugendgruppe verläßt, der setzt seine Erfahrung später keinesfalls in die Anlage von Abenteuer-Spielplätzen um, sondern er gelangt vielleicht zu den Büchern von Koarad Lorenz und bemüht sich um die Erziehung seiner eigenen Kinder auf dem Boden solcher Erkenntnisse. Oder er braucht in führender, beruflicher Position keine Unternehmensberatung, um sich für viel Geld fragwürdige Ratschläge für den Umgang mit Menschen erteilen zu lassen.

In der Landschaft heutiger Bünde wird Ihre Gemeinschaft gelegentlich als elitär, mitunter auch abwertend gemeint, bezeichnet. Wie stehen Sie dazu?

Schulz: Wenn in einem Bach der Wasserstand stark fällt, dann treten auch kleinere Steine plötzlich hervor. Wir sind nicht vermessen. Wo gibt es heute noch Eliten? Wir bieten Freiraum für Persönlichkeitsentwicklung durch frühe Welterfahrung und freiwillige Einordnung in eine Gruppe. Wenn sich das umsetzt in einen ideologiefreien, nicht manipulierbaren Menschen, der aus seiner eigenen Existenz Verantwortung für die Schöpfung ableiten kann, ist das schon viel.

Sehen Sie heute noch Zukunft für den hundert Jahre alten Wandervogel?

Schulz: Ich sehe im alten Wandervogel Ansätze für ein zeitlos gültiges Ideal, insofern auch eine Notwendigkeit. Im übrigen stimme ich Ernst Jüngers Aussage zu: „Heute kann nur leben, wer an kein happy end mehr glaubt, wer wissend darauf verzichtet hat.“ Verstehen Sie das aber nicht als Pessimismus, ich bin lebenszugewandt. Aber in meiner Aufgabe darf man die Realität nicht ausklammern. Unsere Realitat ist eine dekadente Gesellschaft. 

 

Fritz-Martin Schulz, geboren 1941 in Wünsdorf bei Zossen, 1945 mit der kämpfenden Truppe nach Schleswig-Holstein geflohen. Seine Schulzeit verbrachte er im Rheinland an einem Neusprachlichen Gymnasium; Ausbildung in der Repro-Fotografie. Als Schüler unternahm Schulz zahlreiche Wanderfahrten durch Deutschland und Europa; nach der Schulzeit mehrmonatige Fahrt in den vorderen Orient und Eintritt in den Nerother Bund. Als Soldat diente er in Aufklärungseinheiten der Luftwaffe. Verfasser des Buches „Die letzten Wandervögel“. Seit 27 Jahren ist Schulz Bundesleiter des Nerother Wandervogel und Bauleiter auf Burg Waldeck. Kontakt: Nerother-Burg Waldeck, 56290 Dorweiler (Hunsrück), Tel.: 0 67 62 / 79 98.

 

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