© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/01 09. November 2001

 
CD: Jazz
Erhebendes
Michael Wiesberg

Es ist sicherlich keine Übertreibung, den Mitte Juli 1967 im Alter von 50 Jahren verstorbenen Tenor- und Sopransaxophonisten John Coltrane zusammen mit Charlie Parker als künstlerischen Dreh- und Angelpunkt des modernen Jazz zu bezeichnen. Als einer der seltenen jazzmusikalischen Genies hat er wesentlich dazu beigetragen, die Spannbreite des Jazz vom späten Bebop über die verschiedenen Stadien der modalen Spielweise bis hin zum rein klangmalerisch orientierten Free Jazz zu erweitern. Darüber hinaus hat er, als erster Jazzmusiker überhaupt, Entwicklungen in der E-Musik hervorgerufen, konkret in der sogenannten Minimalmusic, für die Namen wie Terry Riley, Steve Reich oder auch Phil Glass stehen.

Der Merenburger Musikverlag ZYX-Music vertreibt seit kurzem einen sieben CDs umfassenden Schuber mit dem Titel „Live Trane. The European Tours“, auf dem bisher größtenteils unveröffentlichte Live-Aufnahmen zu hören sind, die in der Zeit von November 1961 bis November 1963 entstanden sind. Der insgesamt 37 Aufnahmen (darunter legendäre Titel wie „Impressions“, „My favorite Things“, „Afro Blue“ und „Blue Train“) umfassende Schuber bietet im beiliegenden Booklet darüber hinaus seltene Fotos. Veröffentlicht hat dieses Material, das Norman Granz produzierte, der in Berkeley/Kalifornien ansässige Musikverlag Pablo. Präsentiert werden in diesem Schuber vor allem Konzerte, die der Ausnahme-Saxophonist in Europa (Stockholm, Paris, Hamburg, Berlin, Stuttgart) gab. Umfassende Liner Notes und ein Vorwort von Carlos Santana komplettieren diese besondere Box. Coltranes Kollegen auf diesen Tourneen waren der kurz nach diesen Konzerten verstorbene Multiinstrumentalist Eric Dolphy, der Pianist McCoy Tyner, die Bassisten Reggie Workman und Jimmy Garrison sowie Elvin Jones am Schlagzeug.

Die zwölf intensiven Schaffensjahre Coltranes, die sich von Mitte der fünfziger bis in die Mitte der sechziger Jahre erstrecken, können in zwei Perioden unterschieden werden. Die erste Phase könnte man mit dem Jazzkritiker Ira Gitler als Ära der „geschichteten Klangflächen“ bezeichnen, die als schwindelerregende Improvisationen vorgetragen wurden. Diese Periode reichte über ca. fünf Jahre, die vor allem durch die Zusammenarbeit mit Miles Davis gekennzeichnet war. Das Wahrzeichen für das akkordbasierte Improvisieren von John Coltrane ist das Anfang der sechziger Jahre erschienene Album „Giant Steps“.

Ähnlich wie seine Kollegen Ornette Coleman oder auch Cecil Taylor rückte Coltrane in den späten Fünfzigern mehr und mehr von der herrschenden Improvisationspraxis ab. Der Musikwissenschaftler Ekkehard Jost deutete die Spätphase Coltranes als „Willen zur Exploration der Klangfarben“, die sich vor allem in einer Befreiung von harmonischen Zwängen ausdrückte. Nicht übersehen werden sollte Coltranes tiefe Religiösität, die ihn für viele Kollegen zu einem charismatischen Vorbild eines neuen schwarzen Selbstverständnisses werden ließ. Coltranes bedingungslose Hingabe an die Musik hob diese weit über den Rang einer bloßen Unterhaltung hinaus. Der Saxophonist Billy Harper kommentierte: Coltranes „Botschaft war aber so stark wie jene der Alten Musik, die als heilende Musik gebraucht wurde, Musik, die den Menschen erhob, Musik zum Beten und Meditieren“. Ähnlich deutet Coltranes Witwe Alice dessen Intentionen: „Einige seiner späteren Werke sind nicht musikalische Kompositionen. Ich meine, sie beruhen nicht ausschließlich auf Musik.“

Daß Coltrane oft in Europa gastierte erklärt sich aus der großen Zustimmung, die seine Musik gerade hier auslöste. Europäische Kritiker waren ansprechbarer und empfänglicher für Coltranes Musik als US-amerikanische. Was einmal mehr beweist, daß der Prophet im eigenen Lande nichts gilt.


 
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