© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/01 09. November 2001

 
Terrier im Nebel
Der Fremdbestimmung entzogen: Zum 25. Todestag des französischen Schauspielers Jean Gabin
Werner Olles

Wie aus Stein gemeißelt scheinen die Gesichtszüge Jean Gabins, als er in „Wenn es Nacht wird in Paris“ (1954) von der Entführung seines Freundes erfährt. Kurz zuvor haben Max und Riton bei einem Überfall Goldbarren im Wert von 50 Millionen Franc erbeutet. Aber der leichtsinnige Freund verplappert sich bei einer Tänzerin (Jeanne Moreau), und der Nachwuchsgangster Angelo (Lino Ventura) will nun das Gold gegen das Leben von Riton austauschen. Am Ende ist das Gold weg, der Freund tot und Max geht allein durch das nächtliche Paris zu ihrem alten Stammlokal. Das Leben geht weiter, aber es wird nie wieder so sein wie früher.

Jean Alex Gabin Moncorgé wurde am 17. Mai 1904 in Paris geboren. Sein Vater war Operettensänger und Kabarettist, die Mutter trat ebenfalls als Kabarettsängerin auf, und die sechs Kinder wurden von der ältesten Schwester erzogen. Es fiel dem jungen Gabin schwer sich unterzuordnen, er liebte die freie Natur und das Jagen und Fischen. Aus dem Gymnasium flüchtete er und schlug sich in den folgenden Jahren als Hilfsarbeiter auf dem Bau, in einer Gießerei und als Lagerverwalter durch. Nach seinem Dienst in der Marine engagierte ihn auf Bitten seines Vaters der Direktor der Folies Bergeres. Mit der Mistinguett, Simone Simon, Cora Lynn, die sich damals noch nicht Edwige Feuilläre nannte, und Maurice Chevalier sang und spielte Gabin im „Moulin Rouge“ und an den „Bouffes-Parisiens“.

1931 zog er sich von der Bühne zurück, um beim Film zu landen. Fünf Jahre später war er bereits ein Star. Jean Renoir, der Regisseur von „Nachtasyl“ (1936), nannte ihn „eine begnadete Entdeckung“. Noch im gleichen Jahr spielte er in Julien Duviviers „Pépé le Moko“ einen aus Paris geflohenen Gangster, der in der Kasbah von Algier zum ungekrönten König der Unterwelt aufsteigt. Es folgte Jean Renoirs „Die große Illusion“ (1937) und ein Jahr später - wieder mit Renoir als Regisseur - die Verfilmung von Zolas „Bestie Mensch“. Düster naturalistisch, zugleich aber auch äußerst lebendig und kraftvoll vibriert der Film förmlich vom Rhythmus des Zuges und von dem rastlos pulsierenden Leben der Stationen zwischen Paris und Le Havre. Von suggestiver Wirkung war auch Marcel Carnés Meisterwerk „Hafen im Nebel“ (1938) mit dem desillusionierten Liebespaar Gabin und Michéle Morgan, das nach kurzer Gemeinschaft wieder der Einsamkeit ausgeliefert ist. Die Geschichte des desertierten Soldaten und des elternlosen Mädels, die für eine Nacht einen festen Punkt in ihrem Dasein finden und sich nach einigen Stunden wieder auf ewig trennen müssen, wurde zu einem tragischen Filmgedicht über die sinnlose Grausamkeit des Lebens und die ewige Einsamkeit des Menschen. Der Mann wird von der Kugel eines anderen niedergestreckt, aber sein Tod ist die einzig logische Lösung, denn er hat selbst kurz zuvor einen Mord begangen. Carné ließ das Milieu mitspielen: den Hafen mit der ewigen Aufbruchstimmung, die Straßen mit ihrer öden Perspektive, die schleppenden Nebel mit ihren klebrigen Trauerschleiern. Einen herrenlosen kleinen Terrier, der am Anfang aus dem Nebel auftaucht und am Schluß ebenso spulos wieder verschwindet, macht er zum Symbol der Einsamkeit.

Noch deutlicher zeigte sich Carnés scharfer Blick für psychologische Schattierungen in „Der Tag bricht an“ (1939). Auch hier erlebt der Zuschauer die Gestaltung großer Poesie aus dem Skeptizismus, aus der Hoffnungslosigkeit und Lebensverneinung. Gabin spielt einen Fabrikarbeiter, der einen Mord begangen hat, den er jedoch als einen Akt der Gerechtigkeit ansieht. Sein Haus wird von der Polizei belagert, aber er verteidigt sich mit dem Mut der Verzweiflung. In erdrückender Einsamkeit durchlebt er nachts noch einmal die Geschehnisse, die ihn zu der übereilten Tat gebracht haben. Besonders in Ga-bins Rollengestaltung zeigte sich die negative Tendenz des Films, in dem äußerlich gesehen nicht viel geschieht. In den Schlußszenen werden wir jedoch Zeugen eines Zusammenbruchs in vulkanischem Gabinstil.

Zu den wichtigsten Filmen, die Gabin in den vierziger Jahren drehte, gehört Marcel Carnés „Hafen der Verlockung“ nach dem gleichnamigen Roman von Georges Simenon. Mit Max Ophüls drehte er 1951 „Pläsier“ nach Guy de Maupassant und 1954 wieder mit Jean Renoir „French Can-Can“, einen wahren Farben- und Sinnenrausch, der um die Entstehung der legendären „Moulin Rouge“ im Paris der 1880er Jahre wogte. Gabin spielt Charles Zidler, den Gründer des weltbekannten Vergnügungsetablissements, und Renoir betrachtete es als seine Aufgabe, die koloristische Kultur seines berühmten Vaters zu vervollkommnen. Noch im gleichen Jahr erschien unter der Regie von Henri Decoin der Kriminalfilm „Razzia in Paris“, in dem Gabin einen Geheimpolizisten, der hinter Rauschgifthändlern her ist, spielt. In „Gas-Oil“ und „Der Weg ins Verderben“ (beide 1955) ist er dagegen ein Fernfahrer und knüpfte damit wieder an seinen proletarischen Mythos aus den dreißiger Jahren an.

Dreimal spielte er Georges Simenons Kommissar Maigret: 1957 in „Kommissar Maigret stellt eine Falle“, 1959 in „Maigret kennt kein Erbarmen“ und 1963 in „Kommissar Maigret sieht rot“. Daß er auch ein begnadeter Komödiant war, bewies er in zahlreichen Rollen, darunter in Gilles Grangiers „Im Kittchen ist kein Zimmer frei“ (1958), in Jean Delannoys „Ein Herr ohne Kleingeld“ (1960) oder in Henri Verneuls „Ein Affe im Winter“ (1962). Immer wieder kehrte er jedoch zum Genre des Gangsterfilms zurück. Die Faszination Gabins in diesen Rollen liegt zu einem nicht geringen Teil in der Mythologie der Außenseiter-Rolle, die er genial verkörperte. Die instinktive, vitale Revolte gegen die alltäglichen Zwänge, die zur Routine gewordenen Aktionen des alternden Verbrechers, in dessen Lebensweise durchaus Spuren einer antibürgerlichen Utopie zu finden sind: Gerade in den Filmen der fünfziger und sechziger Jahre ist Gabin ein verwitterter Individualist, der zwar zögernd und zunächst unwillig, dann aber bis zur letzten Konsequenz bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Letztlich sind es Freundschaft, Verpflichtung und bürgerliche Hoffnungen, die den Gangster Max in „Wenn es Nacht wird in Paris“ leiten.

Eine andere seiner Paraderollen war die des Clochards, der seine Freiheit gegen alle Anfechtungen zu verteidigen weiß. Wenn er sich im Verlauf seiner Entwicklung auch vom Anarchisten zum Patriarchen wandelte, so blieb er in einem doch immer gleich: in seinem unabdingbaren Willen zur Autonomie, der Clochard- und Gangster-Existenz gleichermaßen als eine nahezu philosophische Lebensweise kennzeichnet, durch die man sich der Fremdbestimmung entzieht.

Vom intellektuellen Film, von der „neuen Welle“ Godards oder Resnais hielt er nicht viel, und Truffaut lehnte es ab, mit ihm einen Film zu machen. Politisch stand er sowohl dem rechten Anarchismus Marcel Aymés als auch dem linken Anarchismus Claude Autant-Laras nahe, und das allgemeine Wahlrecht hielt der entschiedene Anhänger der Todesstrafe für „ausgekochten Blödsinn“. Michel Audiard bezeichnete ihn als einen „Mann der Linken, dem die Linke schließlich die Ideen der Rechten eingebläut hat“, dessen „Verhalten im Krieg aber beispielhaft war“. Noch nie habe er einen Menschen kennengelernt, der die Politiker so sehr verachte wie Gabin.

Am 15. November 1976 ist Jean Gabin im Alter von 72 Jahren in Paris gestorben. Seine Asche wurde - wie er sich es gewünscht hatte - ins Meer gestreut. 


 
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