© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   46/01 09. November 2001


Deutsche Zweisamkeit
Zwölf Jahre nach dem Mauerfall gibt es immer noch verdrängte Fragen
Doris Neujahr

Seit den Berlin-Wahlen gilt: Nichts hat sich geändert, doch viel hat sich geändert! Nichts ist zurückzunehmen an der historischen Bewertung der PDS: Sie ist die SED-Nachfolgepartei, und eines der größten Versäumnisse der Revolution von 1989/90 war es, sie nicht verboten und enteignet zu haben. Danach hätte sie sich ruhig neu gründen können, denn eine radikal linke Partei gehört zu einem Parteiensystem genauso wie eine radikal rechte!

Auf ein anderes Versäumnis wies der Historiker Alfred Grosser 1999 in der JF hin: Es war die originäre Aufgabe der SPD, den Vernünftigen unter den SED-Mitgliedern - die gab es zuhauf - eine Heimat zu bieten: organisatorisch, politisch und emotional, um sie in das demokratische System zu integrieren, so wie CDU/CSU und FDP das mit den NS-Mitläufern getan haben. Diesen Weg hat der machtversessene Helmut Kohl mit seiner Rote-Socken-Kampagne versperrt.

Die PDS, das steht jetzt fest, ist kein Auslaufmodell mehr. Am meisten plausibel - und harmlos - ist der aktuelle Zustrom von Jungwählern, den sie selbst aus den Villenvierteln West-Berlins erfahren hat. Jungen Menschen geht es, erst Recht in Kriegszeiten, nicht um das Machbare, sondern um den idealistischen Gegenentwurf. Den inszeniert die PDS inzwischen besser als die ergrauten Grünen.

Noch aber ist sie eine Ost-Partei. Ihre Stärke hat nur bedingt etwas mit sozialer Benachteiligung zu tun. Gerade in Berlin wurde der Grundsatz: Aufbau Ost vor Ausbau West!, konsequent verwirklicht. Heute sind viele Gegenden Ost-Berlins in einem besseren Zustand als Straßenzüge im Westteil, und die Kaufkraft differiert, wenn überhaupt, nur unwesentlich. Die PDS-Wähler sind längst nicht mehr nur die „Verlierer der Einheit“. Im Szene-Bezirk Prenzlauer Berg wurde die Hälfte der alten Einwohner vorzugsweise durch Besserverdienende ersetzt, doch auch hier hat die PDS satte 42 Prozent erhalten.

Ihr Erfolg entbehrt auf den ersten Blick der politischen Rationalität, denn die Beispiele von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, wo sie an der Macht beteiligt ist, sind niederschmetternd. Stark ist die PDS nur in der Symbolpolitik. So hat die Schweriner Regierung am 17. Oktober in Mecklenburg-Vorpommern als erstem Bundesland den 8. Mai als „Gedenktag an die Befreiung vom Nationalsozialismus und die Beendigung des Zweiten Weltkriegs“ eingeführt.

Die treuesten unter den PDS-Wählern lehnen konkretes politisches Handeln sogar ausdrücklich ab. Sie lassen die Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements ungenutzt und wollen nicht einmal, daß die PDS tatsächlich mitregiert. Ihre Wahlentscheidung ist eine Ersatzhandlung und Trotzreaktion, um es „denen“ einmal zu zeigen. Sie reagieren wie ein unter Liebesentzug leidendes Kind, das seine Handschuhe in den Schnee wirft und ruft: „Meine Mutter wird schon sehen, was sie davon hat, wenn mir die Hände erfrieren!“ In der Hoffnung natürlich, sie werde rechtzeitig herbeieilen, um es zu trösten.

Im Wahlerfolg der PDS drückt sich die anhaltende Kränkung des Ostens aus. Das Gefühl ist vorherrschend, in Deutschland ungehört zu bleiben. Zuletzt kochte dieses Gefühl hoch, als der Bundeskanzler die „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA durch Hinweis auf die Care-Paketen untermauerte, die „wir“ nach dem Krieg bekommen hätten. Für die Mitteldeutschen klang das wie Hohn, doch kein Politiker aus der Ex-DDR fand sich, den Kanzler zu korrigieren, die spezifischen Ost-Erfahrungen zu benennen und in den gesamtdeutschen Diskurs einzubringen. Auch die Medien griffen das Thema nicht auf, denn alle bedeutenden Zeitungen, die Rundfunk- und Fernsehsender sind fest in West-Hand!

Dieses Vakuum füllt die PDS. Der Bundesrepublik sind 1990 nun mal Menschen beigetreten, deren Lebenserfahrungen sich auf den Konflikt „Freiheit oder Sozialismus“ nicht reduzieren lassen. PDS-Wähler erzählen sich kichernd von aktuellen Koryphäen der Ost-CDU, die noch als Dreißigjährige im Blauhemd der FDJ - „Freund der Jugend“ hieß das damals - herumgehüpft sind, oder deren unzureichende Habilitationsschrift erst auf Anweisung der SED-Leitung akzeptiert wurde: Auf der innenpolitischen Agenda stand damals gerade die Förderung der „Freunde aus den Blockparteien“. Der wachsende Zuspruch für die PDS ist ein - infantiler - Versuch, sich von der Vormundschaft des Westens zu emanzipieren.

Der niederländische Schriftsteller Cees Noteboom hat in seinen „Berliner Notizen“ 1989/90 geschrieben: „Die Angst der Deutschen vor den Deutschen, war das ein Grund, weshalb Adenauer 1955 den anderen Teil der Nation seinem Schicksal überlassen hat?“ Er bezog sich auf die Weigerung des ersten Kanzlers, sowjetische Gesprächsangebote über die Wiedervereinigung überhaupt nur zu prüfen. Adenauer hatte „den Schluß gezogen, daß die Integration West-Deutschlands in den Westen wichtiger sei als die Wiedervereinigung Deutschlands.“ Noteboom fragt: „Nur, wie fühlt man sich als Ostdeutscher, wenn man so etwas liest?“ Eine gute Frage, die leider nie ausdiskutiert wurde. Sie jedoch führt erst zum Kern der Probleme, zu einem deutsch-deutschen Trauma, an das die bundesdeutsche Gesellschaft nicht rührt, um ihre geschichtlichen Mythen und moralische Selbstgewißheit nicht hinterfragen zu müssen.

Im Unterbewußtsein arbeitet diese Frage indes weiter. Der Westen versucht das verkappte Schuldbewußtsein durch Transferleistungen zu betäuben, in der irrigen Hoffnung, wohlhabend gewordene „Ossis“ würden irgendwann das westdeutsche Geschichtsbild übernehmen. Die Ex-DDR-Bürger müssen sich daher keine Mühe mehr geben, ihre politischen Interessen überzeugend zu formulieren, sie können sich auf die moralische Erpressung des Westens beschränken. Daraus ist eine Mentalität der Verantwortungslosigkeit entstanden, die wiederum der PDS zugute kommt.

Die PDS ist die Summe der verdrängten Fragen im wiedervereinigten Deutschland. Man sollte endlich klar sagen: Der Unrechtsstaat DDR war das Opfer, das die Mitteldeutschen erbringen mußten, damit der Westen prosperieren konnte. Diese Feststellung gäbe den DDR-Biographien ihre geschichtliche Würde zurück. Den Ex-DDR-Bürgern wiederum würde sich der Blick dafür öffnen, daß sie seit 1989 etwas erfahren, was in der Geschichte von Völkern selten ist und worum -zig Millionen Osteuropäer, die ebenfalls unter der Teilung Europas schwer gelitten haben, sie beneiden: Ihre Landsleute - überwiegend Kleinverdiener - üben zur Milderung dieses Opfers Tag für Tag und ohne Murren Solidarität. Auf der Basis gegenseitigen Respekts könnte dann ein Gespräch entstehen, in dem Ost und West sich schnell darauf einigen: Im Grunde sind wir ein glückliches Volk! Die PDS hätte dann Schwierigkeiten, ihre Existenz zu begründen.


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