© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/01 02. November 2001

 
Meldungen

Stadtbiotope im Thälmann-Land

SEELZE. Für Ingrid Kühn, Leiterin der Sprachberatungsstelle der Universität Halle, dürfte der jüngste PDS-Wahlerfolg in Berlin keine Überraschung bieten. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit der Ost-West-Kommunikation. Veränderungen liest die Sprachwissenschaftlerin gern an neuen Namen, Straßen, Schulen, Geschäften und Gaststätten ab. Oder sie registriert, über den Rahmen der gewöhnlichen „Ostalgie“ hinaus, das mitteldeutsche Beharrungsvermögen. So kann sie feststellen, daß zwar viele „antifaschistische“ Straßennamen durch unverfängliche „Dorf-“, „Haupt-“ oder „Schulstraßen“ ersetzt wurden. Doch noch immer ist die am häufigsten vertretene Persönlichkeit der 1944 im KZ Buchenwald umgekommene KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann. Nach den Ergebnissen der letzten Gebäude- und Wohnraumzählung für Sachsen-Anhalt waren überdies noch 166 Straßen nach Politikern der KPD benannt. Es folgt Thomas Müntzer, der im SED-Staat zum „progressiven Erbe“ der deutschen Geschichte zählte ( Der Deutschunterricht, 4/01). Allein die zahllosen Leninplätze, Straßen, Schulen, Denkmale seien verschwunden, wenn auch bei den Neubennungen eine auffällige Flucht in „entpolitisierte Namen“ zu konstatieren sei. Auf lange Sicht ist Kühn optimistisch: Von der DDR werde ihre schöne Literatur bleiben, die Briefmarken als abgeschlossenes Sammelgebiet und ein Teil der DDR-spezifischen Lexika in arbeits- und lebensweltlichen Darstellungen. Von der PDS spricht die Professorin Ingrid Kühn allerdings nicht.

 

Ein neuer Kanon des orientierenden Wissens

WIESBADEN. An den US-Universitäten sei das europäische Kanonwissen, das man sich dort noch bis in die fünfziger Jahre angeeignet habe, inzwischen vollständig ersetzt worden durch die „Beliebigkeit politisch korrekter Inhalte“. Doch dürfe sich Europa, traditionell der Kontinent von Geschichte und Erinnerung, nach Ansicht des Münchner Literaturhistorikers Wolfgang Frühwald, des derzeitigen Präsidenten der Humboldt-Stiftung, gegenüber diesem „Bildungskahlschlag“ nichts zugute halten. Habe sich doch der Alte Kontinent heute vollständig der von Hollywood geprägten US-„Denkkultur“ ausgeliefert und seine Bildungssysteme der „Atomisierung des Wissens“ anheim gegeben (Leviathan, Heft 3/01). Für Wolfgang Frühwald ist das jedoch keine Katastrophe. Er sieht einen neuen, nicht mehr „abendländisch“ geprägten Bildungskanon heraufziehen: Im interkulturellen Austausch entstehe ein „Kanon orientierenden Wissens“. Als gebildet werde dann gelten, wer angesichts der Informations- „Müllhalden“ in der Lage sei, Informationen in „Weisheit und Urteilsvermögen“ zu verwandeln.


 
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