© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/01 02. November 2001

 
Die Essenz des Nichts
Ausstellung: Andy Warhol Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie in Berlin
Silke Lührmann

Nachdem das Museum of Modern Art in New York 1989, zwei Jahre nach dem plötzlichen Tod des Künstlers „Andy Warhol - A Retrospective“ zeigte, folgt nun in Berlin und nächstes Jahr in London die definitive Variante: die „Andy Warhol- Retrospektive“, so lautet jedenfalls die Hybris der Ausstellungsmacher. Der Berliner Kurator Heiner Bastian will einen „europäischen Blick auf Andy Warhol“ werfen, ihn aus dem Pantheon der Pop-Art zerren, seinem rechtmäßigen Rang als Erbe von Goya und Matisse zuführen und obendrein „die Vorstellung von der Klassischen Moderne bis ans Ende des 20. Jahrhunderts ausdehnen“.

Der Streit geht um Deutungsmonopole und Hoheitsrechte auf Warhols Nachlaß, um Vereinnahmung und die stets unausgesprochene Frage, wer wann wen vereinnahmt. Vor allem ist er ein Gerangel zwischen Hoch- und Populärkultur, wer mehr (und mehr richtiges) über den Zustand der Menschheit zu sagen hat. Daß Warhol unser Sehen beeinflußt hat, ist über jeden Zweifel erhaben. Ob er dies als Vertreter der Pop-Art oder der Klassischen Moderne tat, ist unerheblich, solange man die Bilder als Bilder und nicht als Manifeste betrachtet.

Warhol malte gegen die Entfremdung an - den Abstraktionen eines Jackson Pollock setzte er seine plakativen Aneignungen entgegen. Schloß so der Pop-Artist Warhol seinen Frieden mit Postmoderne und Spätkapitalismus, oder inszenierte der Klassische Modernist Warhol Momente der Auflehnung? Litt Warhol an der Konsumgesellschaft, und litt er genug: Reichte sein Schmerz unter den allzu glatten Oberflächen aus, ihn künstlerisch glaubwürdig zu machen? Der Katalog spricht von „Empörung“, Warhol selbst sagte, er wolle „nicht berühren“. So reproduzierte er detailgetreu Katastrophenmeldungen aus der Tagespresse: Menschen, die sich aus Hochhäusern stürzten, Unfalltote, die Opfer einer Lebensmittelvergiftung, und läßt eine Hinrichtungszelle in grellen Farben aufleuchten. Ist eine Malerei, deren Motive unmittelbar erkennbar sind, weil jeder sie kennt, wahrhaft demokratische Kunst für die Massen? Oder verbirgt ihre Tiefenlosigkeit irgendwelche geistigen Abgründe?

Als Motto ist der Retrospektive ein Gedicht des 1936 geborenen schwedischen Schriftstellers Lars Gustafsson vorausgestellt: „Ich bin der Auffassung, daß / mit dem was gesagt wird, / alles gesagt ist, und ich / betrachte die Sprache als / etwas vollkommen Durch-/ sichtiges: sie schöpft unsere / Gedanken ohne Rest aus. / Die Tragik des Menschen wie / die der Maschinen liegt darin, / daß er kein Geheimnis hat.“

Die Ausstellung sabotiert ihr Anliegen, Warhol als Neuen Meister zu kanonisieren, indem sie nicht - wie der Katalog - die Zeichnungen und Skizzen des Kunststudenten an den Anfang stellt, um die späteren monomanen Monumentalwerke als Blähungen einer überempfindlichen Seele vorstellen zu können. Statt dessen wird der Besucher sofort ins Jahr 1961 entführt und von der Bilderreihe erschlagen, die Warhol im Schaufenster des New Yorker Kaufhauses Bonwit Teller zeigte: „Advertisement“, eine adoleszente Collage aus Wachsstift-Kritzeleien; der „Little King“ in seiner buntgemalten Naivität; Superman, der fulminant gen Himmel schießt; das rasch dahingetuschte „Vorher“ und „Nachher“ einer Schönheitsoperation; Popeye in seinem cartoonesken Element - Warhol halt, wie man ihn schon kannte und entweder liebt oder haßt.

Andy Warhol, der die Optik des „amerikanischen Jahrhunderts“ in seiner zweiten Hälfte mitgestaltete wie wenige andere, wurde 1928 in Pittsburgh als Andrew Warhola, Sohn ruthenischer Einwanderer, geboren. Englisch lernte er erst in der Schule. Nach Abschluß seines Studiums am Carnegie Institute zog er im Sommer 1949 nach New York, wo er in Fabrikgebäuden lebte und arbeitete und sich rasch als Werbegraphiker einen Namen machte. Seine „Factory“ wurde zur Anlauf- und Sammelstelle einer experimentierfreudigen Kulturszene. Unter Warhols geistiger und materieller Obhut entstanden dort in den sechziger Jahren auch Filme, deren Regie oft Paul Morrissey führte, sowie die Platten des Velvet Underground. 1968 wurde Warhol selbst zur Schlagzeile eines Desasters, als Valerie Solanas, die sich von ihm mehr und mehr übergangen fühlte, nachdem sie in einem seiner Filme aufgetreten war, ihn mit einer Schußwaffe lebensgefährlich verletzte.

Indem er die Welt abmalte, wie er sie vorfand, und sich dabei unterschiedslos die Ikonen der Kulturgeschichte wie die flüchtigen Bilder medialer Alltäglichkeit zu eigen machte - Leonardos „Abendmahl“ und den Atompilz, die Freiheitsstatue und den Elektrischen Stuhl, Mao und Marilyn Monroe -, konnte und wollte Warhol nicht die Welt verändern, wohl aber den Blick auf sie verstellen.

Individualität ist nach (und natürlich heißt das nicht nur: seit) Warhol massenproduziert. Dreißig Mona Lisas sind besser als eine, die Vielfalt der 32 Suppendosen erweist sich als Vervielfältigung mit minimalen Abweichungen im Aufdruck, die auf minimale Abweichungen im Geschmack schließen lassen: Auch hier, auf den Dosenetiketten, ist „mit dem, was gesagt wird, alles gesagt“. Warhols serielle Abbildung dessen, was scheint und so auch ist, ließe vermuten, so Donna De Salvo, die die Retrospektive im Londoner Tate Modern kuratiert, „daß uns die Wiederholung für den Inhalt eher desensibiliert. Tatsächlich macht sie das Bild aber komplizierter, weil wir erwarten, bei so viel Information zu erfahren, worum es eigentlich geht.“

Warhols Welt ist eine uniforme, ihre Form die Flachheit des Fernsehschirms und des Schaufensters. Die Galerie als Kaufhaus, das Atelier als Fabrik, der Maler als Kopiergerät, aber als imperfektes: Sowohl bei der von Warhol entwickelten blotted line-Technik, beim Siebdruckverfahren als auch durch seinen großzügigen Pinselstrich ergeben sich immer wieder Unregelmäßigkeiten in all der Regelmäßigkeit. Sie auf menschliche Fehlbarkeit oder auf maschinelles Versagen zurückzuführen, bleibt dem Betrachter überlassen.

Einem Rest Geheimnis mußte Bastians Warhol dann doch auf die Spur kommen wollen, sonst ließe er sich noch schwerer als ernsthafter Künstler bewerben: der „Essenz des Nichts“, die ihren vollendeten Ausdruck in seinen zutiefst nichtssagenden Schatten- und Oxidationsbildern aus den späten siebziger Jahren findet.

Mit all ihren modischen Zweifeln und Doppeldeutigkeiten ist diese Retrospektive eine sehr zeitgemäße Schau. Auch wenn sich die Ausstellungsmacher bei der einleitenden Pressekonferenz ausdrücklich jeden Rückbezug des 11. September auf Warhols katastrophische Weltsicht verbaten - denn Warhol sei es in seinen „Disaster“-Bildern gerade nicht um die gleichzeitige Auslöschung von 6.000 Menschenleben gegangen, sondern darum, dem einsamen Selbstmörder einen Platz in der kollektiven Erinnerung zu sichern -, taten sie dies eben ausdrücklich und zeigten, wie zwingend sich eine solche Bezugnahme aufdrängt. Prompt fragten sich die ungezogenen Journalisten, „wie Warhol reagiert hätte auf die Bilder vom 11. September, die bereits in den Sekunden ihrer Entstehung zu den amerikanischen Katastrophen-Ikonen schlechthin wurden“ (Sebastian Preuss in der Berliner Zeitung).

Immerhin wurde der Beginn der Ausstellung um eine Woche verschoben und ihre Konzeption insofern geändert, als statt der „Thirteen Most Wanted Men“ nun das blutrote „Letzte Abendmahl“ als spektakulärer Blickfang im ansonsten leeren Obergeschoß hängt. Die Porträts der meistgesuchten Verbrecher aus den Fahndungsakten des FBI hatten schon 1964 bei ihrer Entstehung als Auftragsarbeit für die New Yorker Weltausstellung einen Skandal ausgelöst und waren damals schließlich mit Silberfarbe übersprüht gezeigt worden. In Berlin sind sie erstmals wieder zusammen zu sehen. „Um keine falschen Konnotationen zu erzeugen“, sagte Bastian den „Berliner Seiten“ der FAZ, habe er von seiner ursprünglichen Idee „Abstand genommen“, sie zum Aushängeschild der Schau zu machen. Den Kalauer, daß es inzwischen sowieso nur noch einen „Most Wanted Man“ gibt, verkniffe man sich ungern.

Ortgemäß ist die Ausstellung allemal für eine verunsicherte Hauptstadt, die gerade erst in der Zukunft ankommt: für Berlin, das sich immer wieder in den Arm kneifen und vergewissern muß, aus dem vergifteten Schlaf des 20. Jahrhunderts erwacht zu sein.

 

Andy Warhol Retrospektive. Ausstellung bis 6. Januar 2002 in der Neuen Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50. Täglich außer montags 10 bis 18 Uhr, Do. bis 22 Uhr, Fr. bis 20 Uhr, Sa./So. 11 bis 20 Uhr. Info: 030 / 2 66 26 51


 
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