© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/01 02. November 2001

 
Angst in Estland
Die nördlichste Baltenrepublik beugt sich dem OSZE-Sprachdiktat
Carl Gustaf Ströhm

Manchmal bedarf es eines scheinbar marginalen Ereignisses, um ein brennendes Problem deutlich werden zu lassen. Dieser Tage erklärte die Regierung von Estland, sie werde eine gesetzliche Bestimmung abschaffen, wonach Abgeordnete im estnischen Parlament bzw. den Kommunalvertretungen der estnischen Sprache mächtig sein müssen.

Die Rücknahme dieses Gesetzes kommt der russischen Minderheit zugute, die etwa 30 Prozent der 1,4 Millionen Einwohner ausmacht und in manchen Gebieten (etwa um die Stadt Narwa) die Mehrheit stellt. In Zukunft können also aus den Reihen dieser russischen Volksgruppe auch Kandidaten gewählt werden, die nur Russisch sprechen und die Staatssprache weder verstehen noch sprechen. Na und - warum denn nicht? Schließlich war es vor nicht ganz zwei Jahrzehnten schon einmal soweit: in der Estnischen Sowjetrepublik herrschte Zweisprachigkeit: Russisch war die imperiale Verkehrssprache. Das Estnische galt als lokale folkloristische Besonderheit. Zahlreiche Sowjetbürger russischer Nationalität wurden damals ins Land geholt, um die Sowjetisierung durch Russifizierung zu komplettieren. Die Neubürger dachten nicht im Traum daran, Estnisch, das sie als finnischen Dialekt betrachteten, überhaupt zu lernen.

Die etwa eine Million Esten wiederum verteidigten ihre nationale Identität durch die Sprache - durch das geschriebene und das gesungene Wort. Das war die Grundlage der „singenden Revolution“, die in den achtziger Jahren begann und 1991 die Wiedererringung der 1940 verlorenen Unabhängigkeit ermöglichte.

Nach 1991 wurden die Russen in Estland zur Minderheit, die gehalten war, die offizielle Mehrheitssprache - also Estnisch - zu lernen. Sofort erhoben sich Proteste: von Zwang und Bedrohung der russischen Kultur war die Rede. In Wirklichkeit sprachen schon die jeweiligen Größenverhältnisse für sich: einer Million Esten standen nicht nur Hunderttausende Angehörige der russischsprachigen „Minderheit“ gegenüber, sondern dahinter das große Rußland mit mehr als 150 Millionen Einwohnern. Die natürliche Dynamik und Schwerkraft droht das Estnische zwischen den Mühlsteinen zu zermalmen. Auch der Vergleich mit Südtirol und dem Elsaß hinkt: Die dortigen deutschsprachigen Minderheiten haben über 95 Millionen Landsleute im Rücken.

Die Pointe der ganzen Geschichte: Die estnische Regierung hat nicht etwa freiwillig der „Russifizierung“ der Parlamentssprache zugestimmt, sondern auf massivem Druck des Westens, genauer gesagt: der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die OSZE unterhält bis heute eine Art Überwachungsmission in Estland, um die „nationalistische“ Minderheitenpolitik der estnischen Regierung zu kontrollieren. Estlands Premier Mart Laar machte deutlich, das nur ein Rückzug dieser OSZE-Mission die Esten überhaupt in die Lage versetzen würde, als Nato-Kandidat auf dem kommenden Gipfel einen Antrag zu stellen. Der Regierungschef gerät damit in eine nicht beneidenswerte Lage. Erfüllt er die westliche Forderung, um in die Nato zu kommen, gewinnt er zwar vielleicht militärische Stabilität, destabilisiert aber die sprachliche Identität seines Volkes. Lehnt er ab, um die Unantastbarkeit der Sprache zu retten, gefährdet er die nationale und militärische Sicherheit seines Volkes, das dann ungeschützt dem „russischen Bären“ gegenübersteht. Wer erinnert sich da nicht der „Breschnew-Doktrin“ von der begrenzten Souveränität? Und wie moralisch ist es, wenn die Vertreter der westlichen Wertegemeinschaft kleine Völker dazu zwingen, etwas hinzunehmen, was diese Völker partout nicht haben wollen - widrigenfalls ihnen Geld, Hilfe, Kredite und die Aufnahme ins westliche Bündnis verweigert werden?

Vielleicht ist es dennoch nicht zu spät, aus diesem traurigem Fall eine Lehre zu ziehen. Die Westeuropäer müssen sich ebenso wie die Amerikaner endlich abgewöhnen, ihre eigenen Vorlieben und Abneigungen auf andere Länder und Völker zu übertragen. Europa steckt voll von Nationalitätenproblemen, die großenteils nicht gelöst sind. Man bedenke nur, was sich zwischen Ungarn und Rumänien angestaut hat - vom Balkan (Mazedonien, Kosovo) ganz zu schweigen. Es ist auch völlig klar, daß kleine nationale Einheiten - wie etwa Estland - stärker gefährdet sind als Angehörige von großen, mächtigen und jedenfalls zahlenmäßig starken ethnischen Gemeinschaften. Die Deutschen haben im 20. Jahrhundert furchtbare Aderlässe und Katastrophen erleiden müssen - aber sie waren (jedenfalls bisher) groß und vital genug, um solche Katastrophen zu übersehen. Bei kleineren Nationen sieht die Geschichte ganz anders aus.

Hier genügt das Ausfallen einiger tausend Schlüsselfiguren, um die ganze Nation in Gefahr zu bringen. Die Esten leben bewußt oder unterbewußt unter dem Trauma der russischen Invasion, die mit Menschenmassen das kleine Estland niederwalzt. Nachdenkliche estnische Intellektuelle meinen, daß ihr Volk noch einmal großes Glück gehabt habe: Hätte die Sowjetherrschaft fünfzig oder hundert Jahre länger gedauert - wer weiß, was dann noch von den Esten übriggeblieben wäre. Deshalb sollten EU, Nato oder OSZE sich hüten, die Esten und die anderen kleinen Völker herumzuschubsen. Denn ohne diese kleinen Nationen sähe Europa traurig aus.


 
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