© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/01 26. Oktober 2001

 
Autorenwettbewerb: Der Beitrag des Siegers
Das Leben des Herwig S.
Christian Sebastian Moser

Name: Herwig S., Alter: 30, Beruf: Student der technischen Physik, Angestellter der österreichischen Post bei der Abteilung Paketversand für 20 Stunden pro Woche, nebenbei Mitarbeit für den Schallplattenvertrieb Trost und Moderator einer Sendung auf Radio Orange, unregelmäßige DJ Tätigkeit in verschiedenen Lokalen; größte Herausforderung: Beendigung seines Studiums.

Wohnen: in einer unsanierten Altbauwohnung, unbefristeter Mietvertrag: Miete 250 Mark, WC am Gang; wohnt dort seit neun Jahren, hat keinerlei Kontakt zu den anderen Mietern; fährt Opel Corsa Baujahr 1987, weiße Farbe; züchtet eigene Kakteen.

Lieben: Single (unfreiwillig), nach sechsjähriger Beziehung von Freundin verlassen, da er ihr nur Treue, aber keine Abwechslung bieten konnte. Sieht sich seitdem als Opfer des Postfeminismus und zweifelt die Richtigkeit der Demner-und-Merlicek-gegen-Frauengewalt-social-advertising-spots an: Dort werden 20 Prozent der Frauen als Opfer gewalttätiger Männer ausgewiesen, während in seiner Gleichaltrigen-Gruppe ausschließlich die Männer von Frauen verlassen wurden (ohne Gewaltexzesse), da die Frauen mehr Abwechslung einforderten und ihre treuen Freunde zu langweilig fanden. Da Herwig auch einen Großteil der Haushaltsarbeiten erledigte, sieht er sich als Opfer der 68er Generation. Seither auch nicht auf der Suche, sondern resignativer Solipsismus. Nach einer Phase des erhöhten Alkoholkonsums und einer einjährigen Trauerphase jetzt wiedererlangtes Körperbewußtsein und erste Anzeichen von erneuten Balzritualen. Verabscheut Affären und Ein-Nacht-Kopulationen, träumt von nicht-serieller, also einmaliger Monogamie. Haßt Frauen mit Tendenz zur Selbstverwirklichung und verabscheut Schickimicki- sowie Szenecodes. Verhaßtestes Wort: Lebensabschnittspartner.

Mode & Stil: halblange achtziger-Jahre-Collegefrisur, weiße Socken, Turnschuhe (Sommer wie Winter); Cordhosen, enge T-Shirts, nicht betont unmodisch gekleidet, sondern mehr das zeitlos-brave idealer-Schwiegersohn-Outfit, bißchen retro, aber nicht als Bekenntnis, sondern weil er nicht jedem Trend nachhechelt und für Kleidung kein Geld ausgibt, wäscht und bügelt Kleidung selber.

Ernährung: Fast food, aber kein Mc Donald’s, Dosensuppen, Spaghetti, Würstel, Pizza, Nutella, weiße Schokolade, kein Obst (wegen einer Wurmphobie), alle zwei Wochen ein Salat; 70 Prozent der Ernährung kalt, Nichtraucher, Drogengegner, Anglizismen-Hasser, mäßiger und unregelmäßiger Alkoholkonsum (nur Bier, keine Spirituosen).

Medien: Abonnent der NZZ (archiviert seit 1990 jede Ausgabe), besitzt Teleweb- und Telekabelanschluß. Österreichische Zeitungen findet er zu provinziell und parteiisch, die FAZ zu bürgerlich, den Standard zu neoliberal. Sieht wegen seiner intensiven Computerarbeit wenig fern, bewundert Hacker wegen ihrer Robin-Hood-Ethik und ist pro Woche mehr als 20 Stunden online. Lieblingssendung: MTV Club Amour - konsumaffirmierend und volksverblödend mit hohen Kopulationsanreizen.

Musik: gibt im Monat 400 Mark für Schallplatten und CDs aus. Genres: alles außer HipHop und Volksmusik. Seine Abneigung gegenüber HipHop begründet er mit Vorbehalten bezüglich des Gangster-Klischees. Er sammelt vor allem obskure Erstpressungen von amerikanischen Noise/Punk/Gitarrenbands. Hat seit zirka einem Jahr eine Krise, weil ihm Musik nichts mehr bedeutet und er die Kunden des Trost-Vertriebes verabscheut (alles politisch-korrekte Antiimperialisten, die dauernd über Politik, nie aber von Musik sprechen). Will deshalb sein seit vier Jahren unterbrochenes Studium wieder aufnehmen, ist aber aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen dazu nicht in der Lage. Verbringt seine Wochenenden meist als Tourbegleiter und Roadie von zu Recht unbekannten Bands, für die er einen Merchandising-Stand betreut.

Der schlafende Anarch: Wie für viele Jungerwachsene (Mitte der achtziger Jahre) aus den Bundesländern Österreichs erfüllte für Herwig Musik vor allem eine Fluchtmöglichkeit vom regressiven Landleben. Als schüchterner Adoleszenter war „Komatrinken“ bei Zeltfesten für ihn keine Option, die Asexualität und der Weltschmerz eines Robert Smith (The Cure)hingegen eine verlockende Alternative zur geistigen Verelendung der niederösterreichischen Grenzregion.

Herwig S., aufgewachsen in der Hochblüte der Kreisky-Ära, hat den Paradigmenwechsel von der Kontroll- zur Disziplinargesellschaft wohl verpaßt. Unfähig zum Intrigen-Spiel und als Altruist der alten Schule opferte er seine hoffnungsvolle akademische Karriere einem Leben als Plattensammler. Bei ihm hat die Werbung nicht mit dem Schema alt/neu Erfolg, sondern mit der Etablierung eines metaphysischen Paralleluniversums. Herwig, auch wenn er das immer bestreitet, ist der leidenschaftliche Konsument schlechthin, der lieber auf gutes Essen als auf neue Musik verzichtet und in seiner winzigen Wohnung Tausende völlig unbekannte und wertlose Tonträger gebunkert hat. Tonträger sind für ihn weniger Ware als vielmehr Fetisch und Antrieb gegen die Redundanz des täglichen Lebens. Waren mit affektivem Mehrwert sind der größtmögliche Impact, den Werbung erreichen kann. Leidenschaftliche Konsumenten sind die treuesten Konsumenten, weil die Ware so zum Ersatz für die Niederlagen des täglichen Lebens wird und quasi die Rolle des alttestamentarischen goldenen Kalbes einnimmt.


 
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