© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/01 26. Oktober 2001

 
Eine sozialliberale Version der Tugenddiktatur
Geschichtspolitik aus dem Geist der Kritischen Theorie: Ewige Wache am Nullpunkt des historischen Bewußtseins
Jerker Spits

Am 14. September 2001 wurde dem Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. In der Laudatio feierte Jan Philipp Reemtsma, der Mäzen des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Habermas als „den Philosophen der Bundesrepublik Deutschland“. Doch als identifizierbare Größe im Theorie-„Diskurs“ ist die Kritische Theorie, als deren wichtigster zeitgenössischer Vertreter Habermas gilt, schon seit langem nicht mehr erkennbar.

Schon die Friedenspreisrede des Schriftstellers Martin Walser vom 11. Oktober 1998 machte deutlich, daß das Geschichtsbild der Kritischen Theorie nicht mehr automatisch auf Zustimmung trifft. Walser hatte in seiner Rede scharfe Kritik an dem Umgang mit der Schuld des Nationalsozialismus geübt. Die tägliche Vorhaltung der „Schande“ münde in ein bloßes Lippenbekenntnis und nähre den Verdacht einer „Instrumentalisierung“ der Vergangenheit aus höchst gegenwärtigen Motiven. Die große öffentliche Zustimmung zu Walsers Thesen, vor allem in den Leserbriefspalten der Tageszeitungen und in den von ihm wiederholt angeführten über tausend Briefen, die ihn erreichten, ließ erkennen, daß die traumatisch induzierte Geschichtspolitik der Kritischen Theorie kaum noch „anschlußfähig“ ist, um es mit jener Vokabel zu sagen, die Reemtsmas Preisrede in Habermas’ Werk für so zentral erachtet.

Dem demokratischen Tugenddiskurs der vom liberalen Zeitgeist beherrschten Medien standen in ihrer Schlichtheit überzeugende Momente eigener deutscher Erfahrung gegenüber. So äußerte eine Studentin das Bedürfnis, sich „als Angehörige des deutschen Volkes“ genauso „normal“ zu fühlen „wie ein Franzose oder ein Engländer“. Doch aus der Habermas-Perspektive des moralischen Wächteramts gehen solche Aussagen weit über den Bereich der political correctness hinaus.

Fünf Jahre vor Walsers Friedenspreisrede war es Botho Strauß gewesen, der in seinem Essay „Anschwellender Bocksgesang“, der zunächst im Spiegel (1993) erschien und später in den von Heimo Schwilk und Ulricht Schacht herausgegebenen Band „Die selbstbewußte Nation“ aufgenommen wurde, den linksliberalen Grundkonsens der BRD und das systemkritische Denken der Frankfurter Schule radikal in Frage stellte. Strauß kritisierte den Abwehrkampf gegen die Gespenster einer Geschichtswiederholung und wies ein auf Auschwitz fixiertes Gedächtnis in aller Schärfe zurück: „Wehret den Anfängen! Ach! Setzt selber einen brauchbaren!“ Er kritisierte die bundesdeutsche Nachkriegsintelligenz, die immer nur das eine sehen wolle: die Schlechtigkeit der herrschenden Verhältnisse und wandte sich gegen die Gewissenswächter, gegen den verklemmten deutschen Selbsthaß, den linksliberalen Konformismus mit seinem Empörungsvokabular. Strauß bekannte sich zu einer „rechten“ Position des Außenseiters. Damit sei nicht der „Griff in den Secondhandshop der Unheilsgeschichte“ gemeint, sondern ein anderer Akt der Auflehnung: „gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will“. Der Essay sei, so mußte auch der Habermas-Schüler und für die etablierte Presse wie Zeit und Frankfurter Rundschau schreibende Thomas Assheuer einräumen, „ein Einschnitt, ein unerhörtes Dokument - das erste aus dem Neuen Deutschland, undenkbar in der ’alten‘ Bundesrepublik“.

Auch die Debatte um Peter Sloterdijks Elmauer Rede „Regeln für den Menschenpark“ (1999) löste sich schon schnell von ihrem eigentlichen Thema, der Frage nach dem Einfluß der Gentechnik und der Biomedizin auf das künftige Bild des Menschen, ab und entwickelte sich zu einer öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Sloterdijk und Habermas. Wieder ging in den vom „Frankfurter“ Geist infiltrierten Medien der Verdacht einer Ähnlichkeit mit faschistischem Gedankengut unmittelbar über in die Stigmatisierung abweichnender Meinungen. Auch stellten viele Habermas-gläubige Feuilletonisten die Sprengkraft von Dekontextualisierungen eindrucksvoll unter Beweis.

So meinte Reinhard Mohr, Sloterdijks Vortrag über „Menschenzucht“ trage „Züge faschistischer Rhetorik“. In einem offenen Brief warf Sloterdijk dem letzten Vertreter der Frankfurter Schule vor, die öffentliche Kritik gegen ihn inszeniert zu haben. Zugleich nutzte er seine Attacke für eine Abrechnung mit der Kritischen Theorie, die für nicht „normale“ Demokratien „genau das richtige“ sei, für normale jedoch „Ressentiment und die Lust am Bessersein“ organisiere. Die Kritische Theorie sei, so Sloterdijk, in ihrer jüngeren Version (Habermas) „eine sozialliberale Version der Tugenddiktatur“ und stehe kurz vor dem Ende: „Die Ära der hypermoralischen Söhne von nationalsozialistischen Vätern läuft zeitbedingt aus. Eine etwas freiere Generation rückt nach. Ihr bedeutet die überkommene Kultur des Verdachts und der Bezichtigung nicht mehr sehr viel. Die traumabedingte Retrospektivität der Nachkriegskinder kann ihre Sache nicht mehr sein.“

Als der in der Öffentlichkeit einflußreichste westdeutsche Intellektuelle versuchte Habermas, das deutsche Bewußtsein auf den Nullpunkt „1945“ als hermeneutische Grenze zu reduzieren. Unter dem Deckmantel der „politischen Korrektheit“ und der „Westbindung“ wurden alle jenen Kräfte delegitimiert und aus dem alles andere als „herrschaftsfreien Diskurs“ ausgegrenzt, welche den „Tabubruch“ wagten und Probleme beim Namen nannten. Doch schlimmer noch als dies ist der Geschichtsverlust, der aus der eigentümlich ahistorischen, im Rationalismus des 18. Jahrhunderts steckengebliebenen Fixierung auf Auschwitz als archimedischen Punkt im deutschen Bewußtsein hervorging: ein Verlust nicht nur an Erinnerung, sondern auch an Bildern, an Identifikationen, an Lebenskraft.

Die Beiträge von Strauß, Walser und Sloterdijk, anschließend an die Verstörung der westdeutschen Status-quo-Verwalter, die der Geschichtsdenker Ernst Nolte vor 1989 auslöste, zeigen aber, daß die Habermassche Forderung, wegen der „jüngsten Vergangenheit“ ein höchstes Maß an Zurückhaltung im Denken und im Handeln zu üben, eine gouvernantenhaft-verstaubte Waffe aus der Rüstkammer einer enthistorisierten Weltanschauung ist. Zu lange hat die gegen sich selbst unkritische Kritische Theorie das freie Gespräch abgewürgt, dessen Unverzichtbarkeit sie doch immer selbst betont hat.


 
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