© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/01 19. Oktober 2001

 
Die Regeln der Natur
Neuerscheinungen über den „kleinen Unterschied“ zwischen Mann und Frau
Dirk Zahn

Erneut wurde das Gerät der Vorhaut angenähert, und erneut versagte der Mechanismus. Daraufhin wurde die Stromstärke des Elektrokauters weiter erhöht. Wieder wurde die Nadel mit der Vorhaut in Verbindung gebracht. Ein Rauchkringel stieg aus der Leistengegend des Babys auf. Geruch von gegrilltem Fleisch erfüllte die Luft. So schildert der New Yorker Journalist John Colapinto in seinem Buch „Der Junge, der als Mädchen aufwuchs“ einen der bekanntesten Unfälle der Medizingeschichte.

Die verpfuschte Beschneidung bei Bruce Reimer im Jahr 1966 im kanadischen Winnipeg führte zum Verlust des Genitals. Die Ärzte stellten dem Jungen eine ungünstige Sozialprognose, da ein Leben in der männlichen Geschlechtsrolle unmöglich schien. Die Eltern Reimer waren verzweifelt, als sie den Psychologen John Money in einer Talkshow entdeckten. Der war führender Mitarbeiter an der Johns-Hopkins-Klinik in Baltimore. Deren Abteilung für Sexualforschung war seit der ersten Geschlechtsumwandlung 1965 weltweit anerkannt. Money arrangierte eine operative Geschlechtsumwandlung bei Bruce und sorgte für die psychologische Nachbehandlung. Aus Bruce wurde Brenda Reimer.

Money vertrat einen extremen Behaviorismus, der davon ausging, daß die Geschlechtsidentität durch die Umgebung bestimmt werde. Daher sah er bei Kindern, die mit nichteindeutigen Genitalien geboren wurden, prinzipiell keine Probleme, diese operativ immer in Mädchen umzuwandeln.

Für seine Theorie der umweltbedingten Geschlechtsbestimmung war der Fall des kleinen Bruce von besonderem Interesse. Sie konnte nur dann nicht mehr bezweifelt werden, wenn es gelang, ein Kind mit unzweifelhafter biologischer Geschlechtszugehörigkeit umzupolen. Wichtig war auch, daß Bruce einen eineiigen Zwillingsbruder hatte, der als Vergleichsobjekt dienen konnte. Eine perfekte Konstellation für einen ehrgeizigen Experimentator.

Den angeblich positiven Verlauf des Experiments an Bruce /Brenda verkündete Money bei der Präsentation seines Hauptwerkes „Männlich - Weiblich. Die Entstehung der Geschlechtsunterschiede“ (1972). Die Öffentlichkeit war beeindruckt; der Fall avancierte weltweit zum Paradebeispiel dafür, daß es kein biologisch festgelegtes Geschlecht gibt.

Die Umerziehung scheiterte letztlich

So ging die Zeit ins Land und niemand fragte mehr nach dem weiteren Verlauf des Experiments. Einzige Ausnahme: Der Biophysiker Milton Diamond hegte weiterhin Zweifel. Moneys Experiment wich deutlich von seinen Forschungsergebnissen ab. Diamond hatte untersucht, wie das Testosteron bei Trägern des männlichen Y-Chromosoms schon vor der Geburt die spätere Geschlechtsentwicklung beeinflußt. Auch zeigte sich Money äußerst unkooperativ, wenn man fragte, wie es dem Mädchen ergangen sei. 1997 kam die Wahrheit über den Fall ans Licht. Diamond fand über eine Suchanzeige in der Zeitschrift des US-Psychologenverbandes die Familie Reimer. Und welche Überraschung: Brenda hatte sich in einen jungen Mann zurückverwandelt .

Die Umerziehung zum anderen Geschlecht war gescheitert. Obwohl sich die Eltern und Psychologen größte Mühe gegeben hatte, zeigte Brenda überhaupt keine Tendenz, sich wie ein Mädchen zu verhalten, und wurde auch von den anderen nicht als solches akzeptiert. Als sie zu Beginn der Pubertät mit Hormonen behandelt wurde, um ihr weibliche Proportionen zu geben, brach sie psychisch zusammen. Nachdem die Eltern ihr die bis dahin geheim gehaltene Vorgeschichte erklärt hatten, ließ sie sich mit operativen Methoden zurückverwandeln. Heute lebt der Mann, der einstmals Brenda war, glücklich verheiratet mit seiner Frau und drei Stiefkindern.

Colapintos Buch ist äußerst spannend und läßt den Leser mit der gesamten Familie Reimer mitfühlen, die fast zwanzig Jahre in einem Alptraum lebte. Gleichzeitig vermittelt er Einblicke, wie in den letzten Jahrzehnten die „Wissenschaft“ der Sexualforschung betrieben wurde: häufig unter Mißachtung wissenschaftlicher Mindeststandards, stets mit Blick auf die veröffentlichte Meinung und öffentliche Kassen, aber mit wenig Rücksicht auf die Betroffenen.

Als eine Konstante der Evolution sehen Wolfgang Wickler und Uta Seibt vom Max-Planck-Institut Seewiesen die Zweigeschlechtlichkeit. In ihrem Buch „Männlich - Weiblich. Ein Naturgesetz und seine Folgen“ gehen sie das Thema grundsätzlich an. Sie zeigen, warum sich die belebte Natur bipolar entwickeln mußte und es das „dritte Geschlecht“ nicht geben kann.

Zunächst gehen die beiden Autoren der Frage nach, warum sich Sexualität überhaupt entwickelte. Vielfach wird vermutet, daß sich die sexuelle Fortpflanzung durchsetzte, weil so das Erbgut gemischt wird. Dadurch könnten sich Lebewesen schneller an eine veränderte Umwelt anpassen. Wickler und Seibt sehen jedoch den Vorteil nicht in der Veränderung der Gene als Mittel der Anpassung, denn zufällig verändertes Erbgut verbessert nur im geringeren Teil der Fälle die Lebensfähigkeit. Sie betonen vielmehr die Wichtigkeit einer beständigen genetischen Vielfalt durch die Erbgutvermischung. Diese Vielfalt verhindert, daß ein neu auftretender Krankheitserreger auf einen Schlag sämtlichen Individuen den Garaus machen kann. Das führt zu einem Selektionsvorteil für die Art. Eine gleichförmige Änderung aller Lebewesen einer Art würde hingegen immer wieder eine anfällige Monokultur bedeuten.

Dies erklärt aber noch nicht, warum es zwei Geschlechter gibt. Es wäre auch denkbar, daß beliebige Individuen einer Art Teile ihres Erbgutes austauschen. Das müßte nicht einmal an die Fortpflanzung gekoppelt sein. Solche Fälle sind auch bekannt, allerdings nur bei einfachen Lebewesen. Während sich die Lebewesen fortentwickelten, griffen die Gesetze der Spieltheorie.

Die Spieltheorie beschreibt die Erfolgschancen der Teilnehmer an einem Wettbewerb unter bestimmten Randbedingungen (Spielregeln). Bei der Fortpflanzung liegt der Erfolg in der Produktion möglichst vieler lebensfähiger Nachkommen. Die Randbedingungen sind die begrenzte Produktionsmenge an Keimzellen in der Elterngeneration einerseits und eine Mindestgröße der Keimzellen andererseits, damit sie hinreichende Entwicklungschancen haben. Es läßt sich rechnerisch zeigen, daß unabhängig von den weiteren Voraussetzungen nur die Eltern-Individuen gewinnen, die entweder wenige große Keimzellen (Eizellen) oder sehr viele kleine (Spermien) produzieren. Für ein „drittes Geschlecht“ lassen Mathematik und Biophysik keinen Raum. Zwitter sind eine Zwischenlösung für niedere Lebensformen.

Was hat es dann aber mit der Parthenogenese - der Jungfernzeugung - auf sich? Dabei pflanzen sich nicht weibliche Lebewesen fort, wie man vermuten könnte, sondern geschlechtslose Individuen bilden Ableger.

Welche Konsequenzen bringt die Zweigeschlechtlichkeit für die Fortpflanzungsstrategien, das Familien- und Sozialverhalten mit sich? Das kann man nicht allgemein voraussagen, sondern nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Lebensbedingungen plausibel erklären. Bei den Kob-Antilopen lassen die Weibchen die Männchen gegeneinander kämpfen, um den Sieger zu wählen. Das entspricht der weitverbreiteten Meinung, daß immer die Männchen in Paarungskonkurrenz zueinander stehen. Die Spieltheorie sagt jedoch, daß immer derjenige um gegengeschlechtliche Partner konkurrieren wird, der am wenigsten für die Aufzucht der Jungen tut. Bei den Wasserfasanen und den Odinshühnchen werden die Gelege alleine von den Männchen ausgebrütet. Deshalb konkurrieren hier die Weibchen mit bunten Gefiedern um die Männchen.

Ob Monogamie oder Promiskuität herrscht, läßt sich ebenfalls erklären. Dabei unterscheiden sich die Interessen der Geschlechter besonders stark. Die geringere körperliche Investition der Männchen in den Nachwuchs läßt für sie promiskes Verhalten oft vorteilhaft erscheinen. Ein Mangel an paarungsbereiten Weibchen jedoch fördert das Festhalten an einer einmal gewonnenen Fortpflanzungspartnerin.

Die Konkurrenz zwischen den Geschlechtern und innerhalb eines Geschlechts kann noch viele andere Verhaltensformen hervorbringen. Wenn Wickler und Seibt mit der riesigen Fülle an Fallbeispielen überhaupt etwas zeigen, dann das: es gibt in der Natur keine Gesetzmäßigkeiten der Fortpflanzung, die sich nach menschlichen Maßstäben richten. Die Regeln der Natur sind Moral und gesellschaftlichen Idealen entzogen.

Der Mensch ist als bipolares Wesen angelegt

Im letzten Teil des Buches wenden sich die Autoren dem Menschen zu. Leider ist hier ein deutlicher Qualitätsabfall zu bemerken, da sie offensichtlich die Grenzen ihrer biologischen Sachkompetenz überschreiten. Was ist von der Urteilskraft von Autoren zu halten, die äußern: „Auch die immer wiederholte Negativbehauptung, der Mensch sei nun einmal ein Mängelwesen, ist lediglich der Versuch von Moralphilosophen, ihre Unfähigkeit in Sachen Normgebung zu kaschieren“?

Vielem möchte man zwar gerne zustimmen, etwa wenn sie schreiben: „Gemäß ihrer biologisch-sexuellen Natur, die sich auf die Erzeugung der Keimzellen bezieht, sind die Menschen biopolar angelegt, entweder als Mann oder als Frau. ‚Den‘ Menschen gibt es nur als erdachtes Konstrukt,“ und behaupten, „in jedem Fall sind Mann und Frau auf Kooperation angelegt aber verschieden spezialisierte Lebewesen“. Das führt dann zu der Vorstellung einer idealen Geschlechterordnung: „Jedes Geschlecht sucht ein eigenes, ihm spezifisches Ideal. Dann können die geschlechten Besonderheiten voll zur Geltung kommen ...“. Allein, es werden nicht genug Fakten geliefert, die solche Behauptungen untermauern.

Wenn sie überhaupt argumentieren, so verharren die Autoren in einem vereinfachenden materialistischen Biologismus, der der sozialen und psychischen Natur des Menschen nicht angemessen ist. Zum Konflikt zwischen Beruf und Familie meinen sie: „Man muß dabei beachten, daß Ehe und Familie nicht dasselbe sind und daß das Dilemma nicht durch die Ehe entsteht (die Ehepartner könnten ja sogar im gleichen Beruf tätig sein), sondern erst durch ein Berufsleben neben einem Familienleben mit Kindern.“

Wenn sich die Autoren einmal in den Reihen ihrer Studenten und Studentinnen umgehört hätten, dann hätten sie erfahren, wie viele der Beziehungen mit beruflich gleichgestellten Partnern an den daraus resultierenden Belastungen zerbrechen. Dieses Konkurrenzverhalten ist letztlich auch biologisch bedingt. Wickler und Seibt müßten subtiler argumentieren, um ihr biologisch begründetes Gesellschaftsbild aufrechtzuerhalten. Sie argumentieren aber zu simpel. So empfehlen sie Sex als Mittel für dauerhafte Beziehungen. Dabei ist ihnen offenbar entgangen, daß gerade die sexuelle Revolution viele Beziehungen zerstört hat. Vielleicht ist einer der Gründe für diese Blindheit der Haß auf die christliche Morallehre, den beide mit bemerkenswerter Aggressivität hervorkehren.

Komplett dem Menschen gewidmet ist das Werk „Phänomen Sexualität - der kleine Unterschied der Geschlechter“. Der Kaiserslauterer Medizin-Professor Heinrich Zankl hat hier ein Buch vorgelegt, das mit seinen zahlreichen Illustrationen eher den Laien anspricht. Zankl will zeigen, daß die biologisch festgelegten Unterschiede weit über die reine Geschlechtsfunktion hinaus gehen: „Geisteswissenschaftlich orientierte Autoren machen für die breite Fächerung oft ausschließlich die verschiedene Sozialistation von Mädchen und Jungen verantwortlich. Diese Einflüsse sind zweifellos wichtig und wurden in der Vergangenheit vermutlich auch häufig unterschätzt. Es ist aber wenig hilfreich, in das andere Extrem zu verfallen und die zum Teil eindeutig nachgewiesenen biologischen Grundlagen zu leugnen.“

Der Bogen des Buches spannt sich von den genetischen Grundlagen über physiologische und anatomische Unterschiede bis hin zum Ausblick auf die Zukunft der Fortpflanzungs- und Sexualmedizin. Zankl berücksichtigt neueste genetische Erkenntnisse wie die geschlechtsabhängige genomische Prägung. Manche Erbfaktoren für bestimmte körperliche Merkmale werden nur dann im Nachkommen ausgeprägt, wenn sie von der Mutter stammen, andere werden nur vom Vater vererbt. Das Genom „merkt“ sich, ob es in einer Generation männlich oder weiblich war. Dies hat nichts mit der altbekannten X/Y-Chromosomen-Unterscheidung zu tun. Die einfachen Mendelschen Erbregeln, die von einer rein statistischen Mischung des Erbguts ausgingen, sind damit tot.

Tot müßte auch die biologische Begründung für die Quotenregelung sein. Zankl führt aus: „Frauen haben inzwischen bewiesen, daß sie in nahezu allen Bereichen der Arbeitswelt die gleichen, wenn nicht sogar zum Teil bessere Leistungen erbringen können als Männer. In vielen Fällen kann man aber feststellen, daß sie andere Lösungswege beschreiten und andere Strategien entwickeln, um ans Ziel zu kommen. Es wäre sicher eine falsch verstandene Gleichstellung, wenn man versuchen wollte, auch diese Unterschiede zu beseitigen“. Zankl listet auf, bei welchen Verhaltensweisen sich Männer und Frauen deutlich unterscheiden. Er zeigt auch, wie solche Unterschiede mit deutlich unterschiedlichem Gehirnaufbau korrelieren. Daß sich die Zahl der gesicherten Untersuchungen noch in Grenzen hält, führt Zankl auch darauf zurück, „daß biologische Einflüsse in diesem Bereich von vielen Menschen aus eher weltanschaulichen Gründen für möglich gehalten werden. Dementsprechend lösen einschlägige Forschungsergebnisse meist heftige öffentliche Debatten aus, die eine sachlicheBetrachtungsweise sehr erschweren.“

Die Zivilisation nivelliert nicht die Lebenserwartung

Nicht nur psychische, sondern auch körperliche Unterschiede mit weitreichenden sozialen Folgen werden beobachtet. Nach Zankls Meinung ist es der geringeren Widerstandskraft von Männern geschuldet, daß sie in der ersten Welt fünf bis sieben Jahre kürzer leben als Frauen. Die von ihm selbst präsentierten Statistiken erlauben daran Zweifel. So nahm der Unterschied der Lebenserwartung mit zunehmender Zivilisierung zu. Die bessere medizinische Fürsorge hätte aber den gegenteiligen Effekt haben müssen: eine Nivellierung der Lebenserwartung zwischen gesundheitlich Robusten und Anfälligen. Auch Zankl gibt halbherzig zu bedenken, daß vielleicht das risikobereite männliche Sozial- und Ernährungsverhalten den Ausschlag gibt. Hinzufügen sollte man die Frage, ob die Wohlstandszivilisation mit ihrem Mangel an Bewegung im Freien, dem kontinuierlichen Nahrungsüberfluß und zahllosen unausweichlichen Sozialkontakten der stammesgeschichtlichen Rolle von Männern widerspricht und diese krank machen muß.

Ein besonderes Lob verdient Zankl für das abschließende Kapitel „Fragwürdige Ziele - Die manipulierte Sexualität“ in dem er ausführt, wie sich Fortpflanzungsmedizin und Medikamente (Pille, Viagra) auf Sozialverhalten und psychische Gesundheit auswirken.

Allerdings kann keines der drei Bücher als der endgültige Maßstab für eine Theorie gelten, die die Geschlechterrolle auf biologischer Grundlage darstellt. Seit einiger Zeit wird auch in psychologischen Ratgebern die Frage bejaht, ob Geschlechterrollen ererbt werden. Einige dieser Werke, so „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ von Allan und Barbara Pease (Berlin: Ullstein 2000) haben sich zu Kassenschlagern entwickelt.

 

John Colapinto: Der Junge, der als Mädchen aufwuchs. Walter Verlag, 288 Seiten, 39,80 Mark

Wolfgang Wickler / Uta Seibt: Männlich - Weiblich. Ein Naturgesetz und seine Folgen. Spektrum-Akademischer Verlag, 303 Seiten, 39,90 Mark

Heinrich Zankl: Phänomen Sexualität. Vom kleinen Unterschied der Geschlechter. Suhrkamp, 240 Seiten, 19,90 Mark


 
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