© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/01 19. Oktober 2001

 
Im Warenhaus der Weltanschauungen
Mit den Werten sei es nichts, meinte Martin Heidegger schon 1935 - Johann Baptist Müller ist da anderer Ansicht
Friedrich Romig

Die Bücher des konservativen Stuttgarter Sozialphilosophen Johann Baptist Müller haben sich dank ihrer ausführlichen lehrgeschichtlichen Grundlegung auf den Listen für die Pflichtlektüre beim Studium sozialwissenschaftlicher Fächer ihren Platz erobert. Auch sein Buch über „Werteverfassung und Werteverfall“ wird wohl bald dort auftauchen, weil es Anlaß zu Kontroversen über Themen bietet, vor die sich die Gesellschaft noch zu jeder Zeit gestellt sah: Was ist von Wert, wonach ist zu streben, was soll gegenwärtig als wünschenswert durchgesetzt werden?

Müllers Gliederung sorgt dafür, daß diese Themen umfassend behandelt werden. Einführend präsentiert er das Problem der „Werteverschiebung unserer Zeit im Horizonte der historischen Entwicklung“ noch ganz neutral und ohne Vorurteil, denn nicht jede Werteverschiebung bedeutet einen Werteverfall. Das zweite Kapitel analysiert „die Werteverfassung der modernen Sozietät“, wobei sowohl die Exponenten der Werteverfallsthese wie auch ihre Gegner zu Wort kommen und beurteilt werden. Müller läßt keinen Zweifel offen, daß für ihn der Bruch der Moderne mit dem klassischen Wertekanon zu einem Wertepluralismus geführt hat, der in sich selbst einen Widerspruch darstellt, denn sind alle Werte für die Gesellschaft gleich gültig, so sind sie auch gleichgültig und damit wertlos. Aus dem Wertepluralismus wird daher ein Wertenihilismus. Im dritten Kapitel geht er den „geistesgeschichtlichen Ursachen des Werteverfalls“ nach, und im vierten Kapitel sucht er den „Ausweg aus der Wertekrise“, der wenigstens für die westliche Welt auch gefunden wird.

Heute wird jedenfalls kaum noch jemand bestreiten, daß „die Werte“ zentrale Topoi der moralische Verfassung des Gemeinwesens darstellen. „Werte“ sind, nach Carl Schmitt, zum „positivistischen Ersatz des Metaphysischen“ geworden und eben deshalb, weil sie des Metaphysischen verlustig gingen, läßt sich, wie Schmitt ausführlich begründet, heute geradezu von einer „Tyrannei der Werte“ sprechen. Damit ist aber auch schon das Problem angesprochen, daß die ganze Wertedebatte der Moderne und Postmoderne beherrscht: die Nichtverankerung der Werte im Sein, der Bruch mit der noch im Mittelalter selbstverständlichen Auffassung, „ens et bonum et verum et pulchrum convertuntur“. Durch diesen Bruch erhalten „Werte“ den Charakter des Willkürlichen, des Subjektiven, des dem Konsens Vorbehaltenen. Damit hängt dann auch die Beantwortung der Frage, ob man diesen Bruch als positiven „Wertewandel“ oder, negativ, als einen „Werteverfall“ beurteilt, stark vom Standpunkt des Betrachters ab. Wer die „Entlegitimierung“ des aus der Geschichte, besonders dem Christentum überkommenen Wertekomplexes bedauert, wird kaum Verständnis für jene „neuen“ Werte aufbringen, die an seine Stelle getreten sind: Emanzipation, sexuelle Befreiung, Selbstbestimmung. Diese „neuen Werte“ so behaupten die Vertreter der Polyvalenz, ermöglichten jedem Einzelnen, sich im „Supermarkt der Moralen“ seinen „Einkaufswagen mit den Bausteinen einer „Selbstbedienungs-Ethik aufzufüllen“. Von ihnen wird „Moralsurfing“ als Tugend gepriesen, weil dieses täglich neue Perspektiven für das Zusammenleben eröffnet. Von einer dem Gemeinwohl verpflichteten Wertewelt und den ihr entsprechenden Tugenden zu reden, erscheine heute absurd. Mit Karl Popper glauben deshalb viele, „im Westen gegenwärtig in der besten sozialen Welt, die es je gegeben hat“, zu leben. Für sie ist die Behauptung Konservativer, daß „wir in einer moralischen Hölle leben und an psychischer oder moralischer Verschmutzung zugrunde gehen“ eine „glatte Lüge“. Nach Peter Glotz, einst Chefideologe der SPD, versündigt sich, wer das Netz konservativer Vorurteile über die Probleme der Zeit wirft, an den Imperativen der Gegenwart.

Solchen Stimmen, die den Wertwandel positiv beurteilen, können Legionen an Vertretern der Werteverfallsthese gegenübergestellt werden. Zu ihnen zählen Linke wie der Altbundeskanzlers Helmut Schmidt. Er lobt gerade jene Autoren, die den Werteverfall „als Menetekel an die Wand geschrieben haben“, und geht hart mit jenen Kritikern aus seiner eigenen Partei ins Gericht, für die konservative Wertvorstellungen wie „Gemeinwohl, Nächstenliebe, Pflichtgefühl und Verantwortungsbewußtsein veraltete Ideale sind“. In seiner „Suche nach einer Öffentlichen Moral“ (1998) erweist er sich als überzeugter Anhänger einer konservativen Ethik, die sich auf die drei theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe genauso stützt wie auf die vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß. Der Verfall dieser Tugenden und Werte wirke sich nicht zuletzt in erhöhter Kriminalität und Brutalität von Jugendlichen aus. Selbst eingefleischte Neoliberale wie Wilhelm Röpke oder Alexander Rüstow stimmten Jeremiaden über den Werteverfall an, an dem sie durch die Propagierung ihrer Ideologie selbst mitgewirkt haben. Jetzt sei „ein Massenaufstand gegen die letzten Grundlagen alles dessen ausgebrochen, was wir Kultur nennen“, „Verrohung und Verpöbelung“ greife um sich, die „Familie als die natürlichste Gemeinschaftszelle“ verkümmere, der zersetzende Geist des Materialismus lasse sie auf das Niveau einer „bloßen Konsumgemeinschaft und bestenfalls Vergnügungsgemeinschaft“ herabsinken (Röpke).

Doch diese Klagelieder klingen befremdlich in den Ohren einer Gesellschaft, in der nach Georges Bernanons „das Geld nach und nach alles gewonnen hat, was die Ehre verlor“. In der Wirtschaftsgesellschaft „bestimmt letztlich der Markt die Normen“, ist doch „gut“, was erfolgreich ist, und „schlecht“, was sich nicht verkaufen läßt. Im ihrem Mittelpunkt steht das seinen wirtschaftlichen Vorteil suchende Individuum. James M. Buchanan („The Economic Theory of Politics Reborn“, 1988) fordert die Einzelnen auf, ihren Egoismus auszuleben, denn es gebe keine „Sozialmoral“.

In der durch Wissenschaft und Technik geprägten Gesellschaft wird „die Tugend der Anpassung zum obersten sittlichen Gebot“ (M. Landmann). Im technischen „System“ verschwindet die Unterscheidung von Gut und Böse, wird ersetzt durch Funktionieren und Nichtfunktionieren. So fordert der Systemtheoretiker Niklas Luhmann die „Abkopplung von der Moral“, denn Funktionssysteme funktionierten ohne sie.

Dieser Schluß beruht auf einer der modernen Wissenschaft seit langem vertrauten Notion, „absolute Wahrheit und absolute Werte menschlicher Erkenntnis für verschlossen“ zu halten (Hans Kelsen). Weil traditionelle Muster ethischer Sinnstiftung kassiert sind, bleibt dem Gesellschaftswissenschaftler nichts übrig, als sich zur wertrelativistischen und letztlich wertnihilistischen Auffassung zu bekennen (Theodor Geiger). Im Horizont modernen Denkens sind moralische Urteile nur noch Ausdrucksweisen von Empfindungen, mit keinem höheren Stellenwert als „Schmerzensschreie“ (Alfred J. Ayer). Es gibt für sie kein objektives „Kriterium zur Bestimmung der Gültigkeit ethischer Urteile“. Wenn Gott nicht existiert, dann kann es auch kein a priori Gutes mehr geben, und wenn dieses fehlt, warum sollte es dann gut sein, nicht zu lügen, fragte sich Jean Paul Sartre.

Die „geistesgeschichtlichen Ursachen für den Werteverfall“ ortet der Autor in Nominalismus, Humanismus, Aufklärung und Liberalismus sowie in ihren Ablegern, der Klassentheorie des Marxismus, der NS-Rassenideologie, dem Evolutionismus und Sozialdarwinismus sowie in der Machtverherrlichung des Etatismus.

Bereits der Nominalismus habe zur gründlichen „Zersetzung der geistigen Einheit des Mittelalters“ beigetragen (Theodor Steinbüchel), er sei die Ursache des heutigen Wertepluralismus (Richard M. Waever). Gibt es über den Einzeldingen keine Wahrheit und Wirklichkeit, dann ist auch Recht und Sittengesetz nichts Wahres und Wirkliches. Subjektivismus ist die Folge, der „Indivi-dualismus ... die reine Frucht des Nominalismus“ (Ferdinand Prodl SJ.). Jeder Einzelne trägt dann sein Maß in sich, die Humanisten machen sich auf diese Weise von jeglicher Autorität frei.

Wie der Humanismus und der Nominalismus, so hat auch die Aufklärung „die traditionelle Ordnung von Kirche und Staat im katholischen wie im protestantischen Europa vernichtet“ (Christopher Dawson). Sie versuchte die Moral erst auf die Natur, dann auf die Vernunft (ratio) und, als auch dies scheiterte, auf die Sinne zu begründen. Moralische Postulate sind für Friedrich v. Hayek Ergebnis eines „Evolutionsprozesses“, dessen „Resultate niemand vorausgesehen oder entworfen hat“, schon gar nicht Gott. Sie sind „Ergebnis des Konkurrenzssystems, unter dem wir bisher gelebt haben“. Daher gäbe es auch keine Wertvorstellungen, die als „unveränderlich und ewig“ anzusehen sind.

Max Pribilla und Heinrich Rommen machen darauf aufmerksam, daß der Nationalsozialismus seinen Siegeszug erst antreten konnte, nachdem Moral- und Rechtspositivismus an den Universitäten und im Juristenstand gesiegt und die idealistische Philosophie 19. Jahrhunderts verdrängt hatten. Auch für John O. Hallowell ist der Aufstieg des modernen Totalitarismus in der ethischen Defizienz des Liberalismus begründet. Der liberale Wertepluralismus habe illiberalen Bewegungen Tor und Tür geöffnet.

Ausdrücklich fordert die Neue Linke zum Bruch mit der überkommenen Wertordnung auf, um „neue Formen des Zusammenlebens, neue Familienstrukturen, neue sexuelle Verhaltensweisen“ ohne „Moral und Monogamie“ einführen zu können. Zugleich mit der sexuellen „Befreiung“ wird auch „jede emotionale Bindung an die Heimat, die Religion, das Vaterland, die kulturelle Überlieferung, die großen Werke der Kunst und Literatur“ im Keime zu ersticken versucht (W. Brezinka: „Die Pädagogik der Neuen Linken“, 1972). Dabei sollte nach Ansicht von Müller allerdings nicht übersehen werden, daß auch diese neue Sezession auf die unglaubwürdig gewordenen Wertvorstellungen der von ihr bekämpften bürgerlichen Gesellschaft zurückzuführen ist.

Zum Schluß bringt Müller vor allem Stimmen, die in einer Rückbesinnung auf das alte Tugendsystem des Christentums den Ausweg aus der Wertekrise sehen. Für sie gilt das Wort von T. S. Eliot, wonach „das Ende des Christentums das Ende unserer gesamten Kultur bedeutete“. Anders als durch Rückkehr zur Tradition, die Europa gestaltet hat, und durch das unverzügliche „Herangehen an die ungeheuere Aufgabe die christliche Kultur wiederherzustellen“, sind Europa und die westliche Zivilisation nicht zu retten. 

Johann B. Müller: Werteverfassung und Werteverfall. Eine kulturkritische Betrachtung, Duncker & Humblot, Berlin 2001, 128 Seiten, 48 Mark


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen