© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/01 19. Oktober 2001

 
Pankraz,
Sextus und der Wagen, der rückwärts fährt

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Dem Würzburger Verlag Königshausen & Neumann, der sein Geschäft üblicherweise mit der Publikation von brühwarm fertiggestellten Dissertationen macht, fällt es plötzlich ein, die sechs Bücher (d.h. Schriftrollen) „Adversos mathematicos“ („Gegen die Wissenschaftler“) von Sextus Empiricus aus dem zweiten Jahrhundert n. Ch. auf den Markt zu bringen, und das für schlappe 38 Mark! Nicht daß Pankraz etwas dagegen hätte, im Gegenteil, Sextus Empiricus war vielleicht der größte Skeptiker, der je geschrieben hat, und seine Rollen passen deshalb blendend, nämlich als Gegengift, in unsere wissenschaftsbesoffene Gegenwart.

Alle Wissenschaftler, so Sextus, verwenden ganz ungeniert das Prinzip der Kausalität, alle sind „Ursachenforscher“ - und erweisen sich dadurch als die größten Dummköpfe. Sextus war Arzt, befreundet mit Galenos, und als Arzt und Skeptiker sagte er: Der Menschen höchstes Gut ist die Gesundheit, und wer die Gesundheit erhalten will, der muß vor allem genau beobachten. Und im Hinblick auf die angebliche Kausalität ergibt sich dabei folgendes: Was ich beobachte, ist immer nur ein zeitliches Hintereinander der Ereignisse, nie und nimmer ein ursächliches Auseinander.

Wenn die Ursache früher ist als die Wirkung, dann muß die Ursache der Wirkung zeitlich vorausgehen. Es muß aber andererseits die Ursache auch gleichzeitig mit der Wirkung sein, denn wenn die Ursache vor der Wirkung vergangen wäre, könnte sie ja nicht die Ursache sein, dann würden die beiden sich ja überhaupt nicht berühren. Die Ursache muß also mit der Wirkung gleichzeitig sein und ihr doch vorangehen - eine verstandesmäßige Unmöglichkeit, findet Sextus.

Und wie ist es mit etwas, fragt er weiter, das gar nicht eingetreten ist und trotzdem zur Ursache wird? Ein persischer König will eine ägyptische Prinzessin heiraten, die Heirat kommt nicht zustande, aber es entsteht dadurch ein Krieg zwischen Persien und Ägypten. Also aus etwas, das gar nicht stattgefunden hat, entsteht ein sehr handfestes Etwas, nämlich ein Krieg. Hier sei die Fragwürdigkeit der Kausalität mit Händen zu greifen.

Die Kausalität hat die Eigenschaft, daß sich von einer Ursache immer wieder zurückschließen läßt auf eine andere Ursache; es entsteht notwendig ein regressus ad infinitum. Die Kausalität ist ein Wagen, der immer rückwärts fährt, nie vorwärts. Wir forschen und kommen doch nie bei einer letzten Ursache an. Es geht immer weiter hinab, so daß es überhaupt keine Ursache gibt, die ich als letzte, als Grund-Ursache kenntlich machen könnte.

Jeder Ursachenforscher, der es mit seinem Gegenstand wirklich genau nehmen möchte, verliert völlig sein Thema. Er will etwa erforschen, warum soeben auf der Straße ein kleines Mädchen von einem Auto überfahren wurde, und er landet schließlich im Jahre 1736, wo ein Kurfürst mit seiner Mätresse geschlafen hat.

Unser eigenes Leben ist voll von solchen Pseudo-Ursachen. Ein Freund schenkt mir eine Theaterkarte, und ich gehe ins Theater, obwohl ich zum Fußballspiel gehen wollte. Doch im Theater, in der Theaterpause, lerne ich ein Mädchen kennen, das später meine Frau wird. Der Freund mit seinem Geschenk ist also die Ursache dafür, daß ich meine Frau kennengelernt habe.

Aber warum hat der Freund mir seine Karte geschenkt? Weil er, wie er sagt, an diesem Abend Schnupfen hatte. Aber warum hatte er Schnupfen? Weil er beim Spazierengehen in einen kalten Wind geraten ist. Winde werden aber letztlich, wie uns die Klima- und Chaosforscher glaubhaft versichern, von ganz winzigen und zufälligen und fernen Ereignissen angestoßen und in Gang gesetzt, beispielsweise von dem berühmten Schmetterling in China.

Just dadurch, daß es diesem Schmetterling „einfiel“, gerade in diesem und in keinem anderen Augenblick mit seinem Flügel zu schlagen, habe ich meine Frau kennengelernt, just von diesem Schmetterling ist also die genetische Ausstattung der Kinder verursacht, die ich mit dieser Frau habe, und damit das ganze Schicksal dieser Kinder. So löst sich die Kausalität buchstäblich im Schlagen von Schmetterlingsflügeln auf.

Und so wie Sextus die Kausalität mit einem, wie Pankraz findet, höchst bedenkenswerten Fragezeichen versieht, so versieht er auch das andere Lieblingskind der modernen Wissenschaft, die Mathematik im engeren Sinne, mit einem kräftigen Fragezeichen. Ein Punkt im Raum, argumentiert er, ist nach Meinung der Mathematiker das Einfachste, nämlich das, was keine Ausdehnung hat. Nun ist es aber gerade das Wesen des Raums, daß er ausgedehnt ist. Wie kann ein Punkt, der nicht ausgedehnt ist, im Raum sein?

Die ganze Euklidische Geometrie, höhnt Sextus, ist auf den Punkt konzentriert, indem sie behauptet, daß die Linie nichts sei als der sich bewegende Punkt, wie dann wiederum die Fläche nichts sei als eine sich bewegende Linie. Die Euklidische Lehre sei also buchstäblich auf nichts gestellt, gehe von einer „unmöglichen“ Annahme aus, nämlich daß eine Nichtvorhandenheit zum Ausgangspunkt einer ganzen Wissenschaft werden könne.

Die Größen am Aufgang der modernen Philosophie, David Hume etwa oder Hegel, haben Sextus weder widerlegen können noch wollen. Für Hegel war der Arzt aus der Antike ein mächtiger Anreger seiner „Dialektik“: das Nichts als Sehnsuchtsmoment und Motor mitten im Sein, als Nachtseite und Schatten des Seins.

Wichtiger für die aktuelle Wissenschafts-Diskussion - beispielsweise in der Genforschung - erscheint der Gedanke, daß wir auch heute allen Anlaß haben, weniger von Ursachen und Folgen als von schlichten, beobachtbaren Tatsachen zu sprechen. Solches Sprechen fördert sowohl die Gesundheit als auch ein gedeihliches politisches Klima, und zwar nicht nur bei Wissenschaftlern.


 
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