© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/01 19. Oktober 2001

 
BLICK NACH OSTEN
Neue Akzente in Reval
Carl Gustaf Ströhm

Männer machen Geschichte, lautet eine alte These. Und wenn die Männer an der Spitze ausgewechselt werden, kann sich auch der Lauf der Geschichte ändern - so möchte man hinzufügen.

Im Falle Estlands, der nördlichsten der drei baltischen Republiken, kann von einer dramatischen Änderung zwar nicht die Rede sein, weil der bisherige Staatspräsident Lennart Meri nach zwei in Ehren bestandenen Amtsperioden am 8. Oktober turnusgemäß sein Amt übergab. Aber sein 73jähriger Nachfolger Arnold Rüütel hat schon an diesem Tag deutlich zu verstehen gegeben, daß er vieles anders sieht als sein 72jähriger Vorgänger. Das mag teilweise damit zusammenhängen, daß Meri zu den von Stalin politisch Verfolgten und nach Sibirien deportierten Esten zählt - während Rüütel zuletzt Vorsitzender des Obersten Sowjets der Sowjetrepublik Estland und KP-Mitglied war.

Das soll keineswegs bedeuten, daß Rüütel kein patriotischer Este wäre. Aber die Zugehörigkeit zu Nomenklatura und KP (aus der Rüütel noch zu Sowjetzeiten demonstrativ austrat) prägt unbewußt die Denkweisen eines Menschen - auch wenn dieser subjektiv längst mit der roten Ideologie gebrochen hat.

Meri ist ein Mann von Welt, der mehrere Sprachen beherrscht. Der neue Präsident ist nur des Estnischen und des Russischen mächtig - was seinen Informationsradius einschränkt. Vorbei die Zeiten, da sich deutsche Gäste im Revaler Schloß „Kathrinental“ (Kadriorg) vom Hausherrn in tadellosem Deutsch über die Lage informieren ließen. Rüütel, an dessen Integrität niemand im Lande zweifelt, wird sich der Dienste von Dolmetschern versichern müssen.

In den Abschiedsworten des scheidenden und der Antrittsrede des neuen Präsidenten spiegelten sich bereits die Unterschiede. Meri sprach von der großen weiten Welt und daß der Krieg, den die USA jetzt gegen den Terrorismus führe, ein Krieg aller demokratischen Länder der Welt sei. Mahnend erinnerte er seinen Nachfolger daran, daß dieser jetzt die Verantwortung für die Sicherheit Estlands zu tragen habe, weil er Oberbefehlshaber der Streitkräfte sei. In erster Linie müsse das estnische Volk in seiner Existent erhalten bleiben, postulierte Meri - „deshalb müssen wir unsere Muttersprache schützen“ und „unsere Geschichte kennen und verstehen“, mahnte Meri seinen Nachfolger.

Rüütel verteilte die Gewichte etwas anders: „Unsere Generation hat die Unabhängigkeit Estlands gewonnen, aber ist unser Land so geworden, wie wir es gewollt haben - ein zuverlässiges Haus für unser Volk?“ Und dann folgte fast eine „kleine Ohrfeige“ des neuen Staatsoberhaupts: „Viele Menschen haben einen hohen Preis für den jetzigen Erfolg Estlands an der Schwelle zu EU und Nato bezahlen müssen.“

An die Stelle der von seinem Vorgänger geschätzten weltpolitischen, manchmal gar philosophischen Exkurse mit den Großen der Welt will Rüütel den „sozialen Dialog” innerhalb des Landes setzen, weil es - wie er meint - im „EU-Musterkandidatenländle“ Estland an Vertrauen und Verantwortungsgefühl der sozialen Schichten fehle. Als eines der wichtigsten Ziele nannte Rüütel die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Hebung der katastrophalen Geburtenrate. In der Außenpolitik will Rüütel - anders als Meri - Beschränkung üben: vor allem wolle er mit den nächsten Nachbarn an der Ostsee kommunizieren. Mit Rußland strebe er „Beziehungen der guten Nachbarschaft und des gegenseitigen Verstehens“ an. Auch das hätte Meri so nicht gesagt. Irgend etwas hat sich in Estland offenbar doch geändert.


 
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