© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/01 12. Oktober 2001

 
Zeitlose Atempausen für eine atemlose Zeit
Nach einem Jahr hat Sigrid Löffler allen Grund, auf den Erfolg ihrer Zeitschrift „Literaturen“ stolz zu sein
Silke Lührmann

Wer den Medienbetrieb ge wöhnt ist, der die Sprache als schäbigen Gebrauchsgegenstand vernutzt oder aber ausstellt wie ein Stück Kunst, das der beflissene Feuilletonleser bestaunen und keinesfalls anfassen darf, weiß die Liebesmüh zu schätzen, mit der Sigrid Löfflers Heinzelmännchen und Heinzelfrauchen die Wörter schwerelos schreiben. Eine Wonne und obendrein wohltuend ist es, ihnen zuzusehen, wie sie allmonatlich über die gut 120 Seiten der Literaturen tanzen.

Manches, beim Titel angefangen, ist unnötige Ziererei - wer will noch ernsthaft bestreiten, daß Kultur ein plurales Unterfangen ist? Die Abmischung macht’s, und hier zeigen sich Löffler und ihre Redaktionskollegen Hanna Leitgeb und Jan Bürger bewandert. Literaturen stöbert vor allem in den östlicheren Winkeln Europas - manchmal in noch exotischeren Gefilden - nach alten und jungen Schriftstellern, die des deutschen Publikums harren, und schielt immer wieder über den Ärmelkanal und gelegentlich über den Atlantik, um Debatten zu finden, in die es sich einzuschalten lohnt: Wer schrieb die Shakespeare-Stücke, der Earl of Oxford oder der Stratforder Kaufmann William Shakesper? Ist die Biographie nach dem Tod des Subjekts noch eine seriöse Gattung? Wie befruchten Wissenschaft und Autorschaft einander? Welches Vermächtnis konnte der Sozialismus inmitten all der Trümmer hinterlassen?

Und immer und immer wieder die eine Frage, maßgeschneidert auf den hiesigen Markt: Läßt sich der Holocaust kulturell aufarbeiten - durch „Shoa-Romanzen“; durch den aktendokumentarischen Zugriff des Amerikaners Tom Lampert in seiner Episodensammlung „Ein einziges Leben“; durch Giorgio Agambens Begriff des homo sacer, des „un/heiligen Lebens“; durch privatwirtschaftlich bestellte Unternehmensgeschichten; schließlich durch die besessenen Streifzüge deutscher Autoren in die Vergangenheit der Väter, die Täter wurden?

Das Anliegen von Literaturen wurzelt tief in der Friedhofserde des Humanismus. Redaktionslieblinge sind die Michael Ondaatjes, Henrik Mankells, Adolf Muschgs: Autoren, die stilistische Fragen ebensosehr quälen wie ethische. Eine Kinder- und Jugendbuch- sowie eine Krimikolumne runden das Ensemble ab und lassen gar nicht erst den Verdacht aufkommen, Literatur (geschweige denn Literaturen) richte sich exklusiv an eine Schicht von privilegierten Berufslesern. Die Redaktion hat einen ansehnlichen Autorenstamm um sich zu scharen gewußt, darunter aufsteigende Sterne am Philosophenhimmel wie Dieter Thomä oder den slowenischen Psychoanalytiker Slavoj Zizek.

Reich beschenkt, ja unverdient verwöhnt fühlt sich, wer akademischen Schattengefechten etwas abgewinnen kann; der Rest der gesellschaftlichen Elite möge Spiegel und Focus die Treue bewahren. Immerhin übertraf der Absatz der Startauflage von 80.000 alle Hoffnungen der Literaturen-Redaktion. Das gerade zu Ende gegangene erste Jahr eines im großen Stil aufgezogenen reinen Büchermagazins war eine Erfolgsgeschichte, wie sie die bundesdeutsche Literaturszene noch nie erlebt und wohl auch kaum vorausgesehen hatte. Inzwischen ist Literaturen, wie Leitgeb schon zum halbjährigen Bestehen frohlockte, längst in den coolen Cafés des Berliner Nobelviertels Charlottenburg angekommen. Die sind zwar nicht ganz so kultig wie das Kaffee Burger im Osten der Stadt - Wallfahrtsstätte arrivierter Literaten und aller, die sich dafür halten - , über das sich der Dramatiker Moritz Rinke in einer lesenswerten Mischung aus Sozialneid und Sarkasmus ausließ. Trotzdem: Herzlichen Glückwunsch!

Eckhard Fuhr meinte eine „Schmollecke“ befürchten zu müssen - „so aufregend wie der Feminismus Alice Schwarzers“ -, nachdem Löffler wenige Monate vor Erscheinen der ersten Ausgabe im Streit aus dem „Literarischen Quartett“ ausgeschieden war. Die Revanche an Marcel Reich-Ranicki, der ihr vorgeworfen hatte, sie könne „Liebe im Roman“ nicht ertragen, sparte Löffler sich allerdings bis zum Mai-Heft auf, das sich dem Thema „Sex, Lust & Schreiben“ widmete. „Denn die Erotik ist für die Literatur zu wichtig“, bemerkte sie süffisant im Editorial, „als daß man sie irgendwelchen alten Männern überlassen dürfte.“ Die eher biederen Texte - Fazit: Guter Sex läßt sich nicht schreiben (und die Lust am Lesen übertrumpft den besten Sex) - dekorieren fotografisch geschmackvoll aufbereitete Geschlechtsorgane: Evas verrätselte Scham und ein Penis-Stilleben mit Hahn. Aber Geschmack ist halt Geschmackssache, und Sex erst recht. So wollte und wollte die Diskussion auf dem Leserforum monatelang nicht verstummen.

Löfflers Asyl der denkenden Dichter und dichtenden Denker liegt jenseits, wenn nicht abseits des Tagesgeschehens. Nicht einmal den Ansturm der Barbaren (so ein Thema der ersten Doppelausgabe im März) braucht es zu fürchten - welches Interesse sollten diese auch daran haben, seine überquellenden Regale und bildungsbürgerlichen Nähkästchen zu plündern? Es ist Utopie, „Kein Ort nirgends“ im wahrsten Sinne. Schade eigentlich, denkt man - bis Löffler nach einem Jahr den Publizisten Michael Skasa endlich die Wegbeschreibung mitliefern läßt: Hay-on-Wye ist eine walisische Kleinststadt mit tausend Einwohnern und elf Pubs, die eine Zeitlang im Guinness-Buch der Rekorde stand - als Heimat des größten Antiquariats der Welt. Seit 1988 findet dort jährlich ein zehntägiges Literaturfest statt, auf dem sich die bibliophile Schickeria ein Stelldichein gibt. Selbst die in diesem Sommer grassierende Maul-und-Klauen-Seuche konnte nur für zusätzliches Lokalkolorit sorgen.

Am 11. September 2001, so heißt es überall aus aller Munde, habe sich die Welt unwiederbringlich verändert. Im Oktober-Heft der Literaturen ist davon keine Spur und nichts zu spüren. Von einem „gegenwärtig wieder anschwellenden Gesang der Fundamentalisten jeglicher Couleur sowie der ungebremsten Fortschrittsfetischisten“ ist da die Rede - in einem Beitrag zur Philosophie des „Neopragmatisten“ Richard Rorty, von dem man hoffen sollte, daß er zu den berufeneren Mündern gehört -, und es wäre durchaus hilfreich zu wissen, ob „gegenwärtig“ vor oder nach dem Ende der Welt, wie wir sie kannten, meint.

Die brennende Frage, die in diesem Monat die feinsinnigeren Gemüter bewegt, lautet vielmehr: Wie bunt waren die Götter? Ziemlich bunt, glaubt man der üppigen Bebilderung, die das alte Griechenland im Hochglanz eines Reiseprospektes erstrahlen läßt. Unser Weltbild bedarf offenbar tatsächlich einer Revision, denn wer die Antike für ein nüchternes Zeitalter aus weißem Marmor hielt, hat sich geirrt. Ihre karnevaleske Farbpracht ist nur im Laufe der Jahrhunderte verblaßt.

Mit der hellenischen Kultur befaßt sich Literaturen rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse, die sich diesen Länderschwerpunkt auserkoren hat, und auch sonst ist die Zeitschrift durchaus ins deutschsprachige Literaturgetriebe eingebunden. Der Kalender bietet eine Übersicht über alle Lesungen und Veranstaltungen, die man im Laufe des Monats verpassen wird. Mit dem Fräuleinwunder telegener Debütantinnen haderte Literaturen mehrfach und kam jedesmal zu dem Schluß, daß weniges so vollmundig gegessen, wie es hochgekocht wird: Kein Medienrummel ist ganz schlecht, der das Volk in die Buchhandlung strömen läßt, Literatur im Fernsehen besser als Fernsehen statt Literatur.

Vergeblich ist sie nicht, die Mühe der Literaturen-Redaktion, und ein Leserbrief bescheinigte schon, das letzte Heft sei „gar nicht langweilig“. Literaturen beschert Monat für Monat ein paar kostbare Stunden lang Erholung von der Wirklichkeit, zeitlose Atempausen für eine atemlose Zeit. Allerdings, anstelle der Literaturen könnte man auch gleich Literatur lesen - oder schreiben.

„Literaturen“ erscheint monatlich mit jeweils einem Doppelheft im Januar/Februar und Juli/August. Anschrift: Friedrich Verlagsservice, Postfach 10 0150, 30917 Seelze, Tel./Fax: 05 11/400 04-152/-170. Das Einzelheft kostet 12 Mark (Doppelheft 20 Mark), ein Jahresabonnement 136 Mark (für Schüler, Auszubildende und Studenten 99 Mark).


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen