© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/01 12. Oktober 2001

 
BLICK NACH OSTEN
Mehr Zurückhaltung, weniger Gefühl
Carl Gustaf Ströhm

Die Deutschen sind - sieht man
von wenigen Ausnahmen wie Bismarck oder Adenauer ab - nicht gerade als Meister der Diplomatie in die Geschichte eingegangen. Das bewies dieser Tage auch Bundeskanzler Schröder, der in der allgemeinen Gefühlsaufwallung nach den Terroranschlägen in den USA erklärte, man müsse jetzt auch das Tschetschenien-Problem „anders betrachten“. Gemeint war natürlich: anders als bisher.

Die Bemerkung des Kanzlers fiel im Zuge des Putin-Auftritts im Bundestag, wo der russische Präsident (wie nicht anders zu erwarten) die Chance der allgemeinen Terror-Empörung nutzte, um recht unverhüllt ein Tauschgeschäft vorzuschlagen: Rußland unterstützt den antiterroristischen Kampf des Westens - dafür leistet der Westen (nicht zuletzt Deutschland) den Russen Hilfe bei der Niederwerfung der Tschetschenen (und anderer rebellischer Völkerschaften).

Allerdings gibt es ernste Anzeichen dafür, daß es sich im Fall Tschetschenien nicht um Terrorismus an sich, sondern um eine nationale (und religiöse) Befreiungsbewegung handelt, die sich terroristischer Mittel bedient. Würde man die Maßstäbe, welche die russische Politik gegen die Tschetschenen anlegt, auf sämtliche anderen Befreiungsbewegungen übertragen, dann wären fast alle „Terroristen“ - angefangen von den damals britischen Untertanen, die sich im 18. Jahrhundert in Boston und anderswo in Amerika gegen die Engländer erhoben, bis zu den Zyprioten und nicht zu vergessen den Israelis, die mit Bombenanschlägen und Sprengungen in den vierziger und fünfziger Jahren gegen die britische Besatzungsmacht vorgingen.

So einfach ist also die Sache nicht. Abgesehen davon stellt sich auch die Frage nach den politischen Interessen. Daß die russische Armee in Tschetschenien gröbste Menschenrechtsverletzungen begangen hat (und bis heute begeht) wissen wir von untadeligen russischen Aktivisten und Kritikern. Daß man aus Gründen des Takts und der Taktik dieses Thema nicht gerade in den Mittelpunkt deutsch-russischer Gespräche stellt, gehört zu den unvermeidlichen Häßlichkeiten des diplomatischen Geschäfts: „Wenn wir für uns selber täten, was wir für unser Land tun, was für Lumpen wären wir“, sagte einst Graf Camillo Cavour, Einiger Italiens und Zeitgenosse Bismarcks.

Wenn man etwa erfährt, daß Putins Rußland die militärischen Aktionen der USA gegen Afghanistan voll unterstützt, dann wird man doch wohl fragen dürfen: Ist es vielleicht das Ziel Moskauer Politik, die Amerikaner und die Nato in einen schweren, vielleicht sogar irreparablen Konflikt mit dem Islam geradezu hineinzutreiben? Gleichzeitig bietet Moskau den US-Streitkräften die jetzt „unabhängigen“ ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens als Operationsbasis geradezu an, zum Beispiel Usbekistan, von wo aus die Taliban durch US-Eliteeinheiten bekämpft werden sollen. Aber unter dem usbekischen Präsidenten Islam Karimow gibt es im Lande 7.000 politische Gefangene, eine zerstörte Opposition und keinerlei unabhängige Massenmedien. Wird hier nicht der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben?

Eine vorausschauende deutsche Diplomatie müßte sich auch in der jetzigen Situation Optionen offenhalten - sowohl was Russen wie was Amerikaner angeht. Schon Schröders Formel von der „uneingeschränkten“ Solidarität war eine Umdrehung zu viel. Solidarität ohne Adjektiv hätte genügt. Sich aber in die Kalamitäten russischer Nationalitätenpolitik einzuschalten, ist geradezu mörderisch. Mehr Zurückhaltung und weniger „Gefühl“ wären die bessere Variante.


 
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