© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/01 05. Oktober 2001

 
Das verfemte Bekenntnis zur Wiedervereinigung
Burschenschafter schreiben über die Teilung Deutschlands und ihre Rezeption in der bundesrepublikanischen Gesellschaft
Philip Plickert

Den 3. Oktober sollte man nicht als Tag der Einheit, sondern als „Tag der Heuchler“ im Kalender vermerken, solange jedenfalls jene Garde von Politikern Zepter und Reden schwingt, der man - um es vorsichtig zu formulieren - vor 1989/90 keine brennende Sehnsucht nach Überwindung der Teilung nachsagen konnte. Auch dieses Jahr gibt es wieder offizielle Festakte, denen anständige Menschen besser fernblieben, da es Lügen und Halbwahrheiten prasselt. Seit dem Beginn der neuen Ostpolitik und der Hoffnung auf Entspannung um jeden Preis sprachen immer mehr westliche Meinungsführer wider die Vereinigung statt von Wiedervereinigung: Der heutige Bundeskanzler Schröder war es, der noch wenige Monate vor dem Mauerfall eine auf die Wiedervereinigung gerichtete Politik als „reaktionär und hochgradig gefährlich“ beschimpfte. Auch ein Peter Glotz, zeitweilig Bundesgeschäftsführer der SPD, sollte heute besser den Mund halten, da er noch 1989 den Gebrauch des Wortes „Wiedervereinigung“ als „opportunistisch und widerwärtig“ verdammte, sein Kollege Egon Bahr warnte damals dringend vor der „politischen Umweltverschmutzung“ einer „Illusion der Wiedervereinigung“.

Zu den wenigen, die während der 40 Jahre der Teilung am Ziel der Einheit festhielten und dies mit zahlreichen Reden und Schriften öffentlich bekannten, gehörte die Deutsche Burschenschaft (DB), der traditionsreiche Zusammenschluß von etwa hundert zum Teil mensurschlagenden Studentenverbindungen. Alljährlich von 1952 bis 1989 hielt die DB in Berlin Tagungen mit dem Zweck ab, das Bewußtsein für die widernatürliche und unmenschliche Teilung der Deutschen zu schärfen und Strategien zur Überwindung der Zweistaatlichkeit zu entwickeln. Ihr treuer Glaube wurde zunächst geduldet, dann belächelt, schließlich bekämpft und als „ewiggestrig“ verschrien. Auf Dankesworte für ihre Arbeit oder auf eine freundliche Erwähnung am Tag der Einheit braucht die DB nicht zu hoffen, denn am 3. Oktober klopfen sich hundertmal die Falschen gegenseitig auf die Schulter.

Um nicht völlig leer auszugehen, hat die Deutsche Burschenschaft die Herausgabe des Sammelbandes „Deutschlands Teilung und die Deutschen“ beauftragt, der kritische Betrachtungen der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen enthält und auch das Wirken der DB dokumentiert. Sechzehn Juristen, Politikwissenschaftler, Historiker und Publizisten, darunter der frühere Berliner Bürgermeister Eberhard Diepgen und der ehemalige General Günter Kießling - allesamt Burschenschafter - beackern das Feld der deutschen Teilung: die wechselvolle Deutschlandpolitik von CDU und SPD, von CSU und FDP, die Einstellung der Kirchen und die Haltung der Universitäten, die Stellung der Bundeswehr und vieles mehr. Das Ergebnis ist eine Fundgrube historischer Splitter, die sich zu einem facettenreichen Bild der fortschreitenden Entfremdung der Westdeutschen von ihren Landsleuten im Osten und der 1989/90 erfolgten wundersamen Wende zusammensetzen.

Schon die Einleitung erhebt bittere Klage: „Heute wie damals mutet es seltsam an, daß der Einsatz für das im Grundgesetz festgeschriebene Wiedervereinigungsgebot - im Hinblick auf die langjährige Teilung Deutschlands eine nachgerade revolutionäre Forderung - dazu benutzt wurde, den Burschenschaftern eine reaktionäre Gesinnung zu unterstellen. Wohl nie zuvor in der jüngeren europäischen Geschichte ist das Eintreten für einen klaren Verfassungsauftrag so zur Grundlage von Diffamierungen gemacht worden wie in der ’Deutschen Frage‘.“ Der Herausgeber Hans-Georg Balder beschreibt das innige Verhältnis der Burschenschaft zum Vaterland seit ihrer Gründung am 12. Juni 1815. Balder zeigt, wie eng die deutsche Geschichte seitdem mit dem Geschick der Deutschen Burschenschaft verbunden ist und umgekehrt.

Auch in widrigen Zeiten, als die Mehrheit der Westdeutschen am 17. Juni ein Fußballspiel oder einen Badeausflug dem Gedenken an den Volksaufstand in Ostberlin vorzog, dekretierte ein Festredner der Burschenschaft: „Die Lehre von der Spaltung Deutschlands ist irrig, falsch, verrucht.“ Aus der Erkenntnis, daß auf den Häusern der Studentenverbindungen zukünftige Akademiker manche dem Zeitgeist konträre Einsicht erhielten, erwuchs der Haß der politischen Linken auf die Burschenschaften, die „Unbelehrbaren“. Balder schreibt, die Burschenschaft habe „in der Deutschen Frage stets eine radikale, auf freiheitliche Wiedervereinigung ausgerichtete Stellung“ eingenommen, „selbst wenn Zurückhaltung geboten schien“.

Ein Aufsatz von Björn Clemens bescheinigt der CDU in der Deutschlandpolitik falsche Prioritäten und eine „Abkehr von der Einheit“. Ihrem ersten Kanzler Konrad Adenauer habe als rheinisch-katholischem Preußengegner aller markigen Rhetorik zum Trotz an der Wiedererlangung der Ostgebiete wenig gelegen, meint Clemens, der die Westbindung nicht als einzig gangbaren Umweg zur Wiedervereinigung gelten lassen möchte. Nach der Machtübernahme von 1983 verschob der christdemokratische Kanzler Helmut Kohl allenfalls graduell die Gewichte. In seiner sechzehnseitigen Regierungserklärung tauchte das erste Wort zur Deutschen Frage auf der vorletzten Seite auf. Führende CDU-Politiker wie Heiner Geißler, Rita Süssmuth oder der Bundespräsident Richard von Weizsäcker näherten sich linken Positionen. „Was Deutschland gebraucht hätte“, schreibt Clemens, „war ein Fichte, ein Jahn.“

In dem längsten und wohl auch gründlichsten Beitrag des Sammelbandes untersucht Hans Merkel die beiden deutschlandpolitischen Antipoden CSU und SPD. Während die SPD in den Oppositionsjahren von allen im Bundestag vertretenen Kräften den meisten deutschlandpolitischen Eifer gezeigt habe, so Merkel, sei die CSU als Regionalpartei in dieser Frage eher unauffällig gewesen.

Dann tauschten SPD und CSU die Rollen. Als ab 1969 mit der neuen Ostpolitik „die einheitspolitischen Rechtspositionen Deutschlands mehr und mehr unter die Räder kamen, wurde die CSU, ihre große Schwester weit hinter sich lassend, zum zuverlässigsten parlamentarischen Bewahrer des deutschen Wiedervereinigungsgedankens“. Dabei unterschlägt Merkel, der viele Jahre in der CSU-Landesgruppe des Bundestages arbeitete, keineswegs die Fehlleistungen seines Chefs Franz Josef Strauß: Zeitweilig beschleunigte dieser den Verfall des Gedankens an die staatliche Einigung, indem er für Mitteldeutschland eine „Lösung“ nach dem Vorbild des neutralen Österreichs anstrebte. Strauß sprach in unpassender Weise von „irgendwelchen nostalgischen Träumen vom deutschen Nationalstaat“, andererseits verfaßte gerade die CSU-Landesgruppe scharfe Pamphlete gegen die Zweistaatlichkeit.

Aus dem Blickwinkel des Juristen mißt Merkel den raffinierten Formulierungen der Präambel des Grundgesetzes entscheidende Bedeutung zu. Der SPD-Verfassungsrechtler Carlo Schmid hatte hier den Pflock eingerammt, wonach das Deutsche Reich als Staat nicht untergegangen und damit die staatliche Einheit ein völkerrechtlicher Anspruch war. Als die entspannungssüchtige Generation in der SPD sich längst mit Teilung als einer Art „gerechten Strafe“ angefreundet hatte, konnten sich konservative Kräfte in der CSU noch an diesem Anker Schmids festhalten, etwa als sie 1973 gegen Brandt und Scheel vor dem Verfassungsgericht ein Urteil zu den Ostverträgen erwirkten, das alle Verfassungsorgane verpflichtet, in ihrer Politik auf das Ziel der Wiedervereinigung hinzuwirken.

Bei allen diesen Überlegungen sollte man jedoch nie vergessen, daß gerade nicht westdeutsche Politiker, Medien oder Gerichte 1989 das Tor zur Einheit aufstießen. Einfache Bürger in der DDR wagten unter Einsatz ihres Lebens - denn das blutige Massaker von Peking war noch frisch im Gedächtnis - den Widerstand gegen das Regime. Da mochte Erich Honecker bei den 40-Jahr-Feierlichkeiten witzeln, „den Sozialismus in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf“, durch den friedlichen Protest der Demonstranten brach der morsche SED-Staat in sich zusammen.

Die westdeutsche Nomenklatura war diesem Phänomen derartig unvorbereitet ausgesetzt, daß die Reaktionen auf den mutigen Schritt der DDR-Bürger in der Sache der Wiedervereinigung kontraproduktiv waren. Nicht wenige westdeutsche Vertreter waren mit Plänen einer Stabilisierung des kaputten Systems jenseits der Mauer und der Manifestierung der Zweistaatlichkeit beschäftigt, selbst als die Demonstranten schon „Deutschland - einig Vaterland“ forderten. Deshalb wäre vielen Politikern und Medienmachern heute Bescheidenheit angeraten. Angesichts der Massendemonstrationen schrieb etwa Theo Sommer 1989 in der Zeit: „Wer heute das Gerippe der deutschen Einheit aus dem Schrank holt, kann alle anderen nur in Angst und Schrecken versetzen.“ Der Grund seiner Angst und seines Schreckens war Anlaß zur Freude für die Deutsche Burschenschaft.

 

Hans-Georg Balder (Hrsg.): Deutschlands Teilung und die Deutschen. Eine kritische Betrachtung aus burschenschaftlicher Sicht. WJK-Verlag, Hilden 2001, 330 Seiten, 39,90 Mark


 
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