© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/01 05. Oktober 2001

 
Die Gegenwart des Anderen
Berlin im Umbruch: In der Folge des Anschlags auf New York wird die Hauptstadt erwachsen
Doris Neujahr

Als der Einsturz des World Trade Centers zum sechsten oder zehnten Mal über den Bildschirm flimmerte, mußte der Schweizer Besuch schnell mal telefonieren. Es ergab sich, daß seine Rückreise nach Neuchâtel am Neuchâteler See nicht wie geplant in vier, sondern unbedingt schon in zwei Tagen erfolgen müsse. Seinen Berliner Gastgebern wünschte er, mit einem Anflug von Melodramatik, alles Gute. Als ein paar Tage später eine Verwandte aus Norddeutschland, die sich eben noch wie eine Dampfwalze aufgedrängt hatte, ihren Besuch absagte - „Das schlechte Wetter!“ -, dämmerte den Berlinern, daß zwischen den Ereignissen in New York und der plötzlichen Berlin-Abstinenz in ihrem Bekanntenkreis ein Zusammenhang bestünde.

Sie würden sich nicht trauen, diesen Zusammenhang selber auszusprechen. Sie sind es gewohnt, ihre Stadt kleinzureden, sich für ihre Skandale und für die Berlin-Prognosen von vor zehn Jahren zu schämen: Fünf Millionen Einwohner zur Jahrtausendwende und der Aufstieg zum größten Wirtschafts- und Technologiezentrum zwischen Atlantik und Ural waren angekündigt. Berlin sollte sich als prosperierende Drehscheibe zwischen Ost und West etabliert haben und als Werkstatt der deutschen Einheit sowieso. Kulturell fühlte die Stadt sich längst an der Spitze, und alles würde noch viel schöner kommen. Nicht nur der ehemalige US-Botschafter Richard Holbrooke meinte, in Kürze würde „die ganze Welt Berlin als Hauptstadt und Zentrum Europas betrachten“. Also wurde gleich noch eine „Generation Berlin“ beschworen, die irgendwie weltläufiger und intellektueller sein sollte als alles, was es bisher in Deutschland gab.

Die Wirklichkeit ist profaner: Sie besteht aus Finanzlöchern, schrumpfenden Bevölkerungszahlen, Politfilz, und die Preise für die besten Bühneninszenierungen gehen seit Jahren ausschließlich nach Zürich, München, Stuttgart oder Graz. Und die „Generation Berlin“ heißt Gysi, Steffel und Wowereit.

Es bedeutete Balsam auf wunde Seelen, daß George W. Bush in seiner Ansprache vor dem Kongreß zur Lage der Nation die große Trauerkundgebung in Berlin in einem Atemzug mit Paris und London erwähnte. Offenbar ist die Außenwahrnehmung Berlins anders, günstiger als sein Selbstbild. Die 200.000 Teilnehmer waren im übrigen freiwillig, aus einem authentischen Bedürfnis heraus, zusammengekommen. Schockartig hatten sie begriffen, daß die Zurüstungen der Zivilisation, deren sublimster Ausdruck die geschmeidig funktionierenden Millionenstädte sind, im Ernstfall vor dem Tod nicht nur keinen Schutz gewähren, sondern noch extra Todesgefahren auf sich ziehen.

Kultur und Zivilisation werden in den großen Städten geprägt. Es war von grausiger Logik, daß ihre Verwundbarkeit am Beispiel der Mega-Stadt New York exekutiert wurde. Logisch war auch, daß diese Botschaft von allen deutschen Städten - neben der Hochhausstadt Frankfurt - in Berlin die stärksten Emotionen auslöste. Und nicht weniger folgerichtig war der Ort, den die Berliner für ihre kollektive Angstüberwindung und Selbstvergewisserung wählten: das Brandenburger Tor, wo der Zusammenhang von nationalem Drama und europäischem bzw. globalem Konflikt immer schon greifbar war.

In diesen Tagen hat sich die Stellung Berlins als Hauptstadt und seine Möglichkeiten als Metropole gezeigt. Der „Hauptstadt“-Begriff meint erstmal nichts weiter als das politische Zentrum eines Landes. „Metropole“ bezeichnet im heutigen Sprachgebrauch eine Stadt von exemplarischer - oft kultureller - Bedeutung und internationaler Ausstrahlung. Manchmal fällt beides von selbst zusammen. Paris etwa erlebte seinen Aufstieg als Nationalmetropole, als „einziger Mittelpunkt (...) eines großen Landes für Politik, Literatur, Wissenschaft, Finanzwesen, Handel, Genuß und Aufwand“, es war die „Krönung“ der Nation. (Paul Valery)

Die Berliner Tradition ist anders. Die kaiserliche Hauptstadt konnte beeindrucken, faszinierend aber wirkte erst das Berlin der zwanziger Jahre. Seinen Aufstieg zur kulturellen Metropole erlebte Berlin in der Nachfolge amerikanischer Weltstädte, er war zu jenem Zeitpunkt erreicht, als die nachrevolutionäre Flüchtlingswelle aus Rußland der Stadt ein „Charlottengrad“ bescherte. Berlin begeisterte mit Differenzen und Divergenzen, mit Urbanität, modernen Verkehrssystemen, sozialem Wohnungsbau, Cabarets, mit avantgardistischem Theater und Film, mit seiner Verruchtheit und seinem Tingeltangel. Die Anfeindungen aus dem Reich waren heftig, doch konnte Carl Zuckmayer über jene Zeit schreiben: „Wer Berlin hatte, dem gehörte die Welt.“

Sicher, von diesem kulturellen Hochgefühl ist im Moment nichts zu spüren. Die Schuld daran wird abwechselnd dem politischen Personal, den talentlosen Künstlern oder der Berliner Subventionsmentalität gegeben. Der entscheidende Unterschied zum Berlin der zwanziger Jahre aber liegt woanders. Damals war Berlin das Laboratorium der Moderne, die zwar voller Skepsis war, aber nicht wirklich an sich zweifelte. Dieses Selbstbewußtsein ist perdu. Auch der innerdeutsche Ost-West-Konflikt hat sich kulturell als wenig produktiv erwiesen. Wenn die „Szene“ aus Kreuzberg (West) nach Prenzlauer Berg und Mitte (Ost) abwandert und von dort über Friedrichshain (ebenfalls Ost) irgendwann wieder zurück nach Kreuzberg zieht, gibt das reiches Anschauungsmaterial für Soziologen, reicht aber nicht aus, um die Stationen einer Kulturrevolution nachzuzeichnen.

Vielleicht lag die Aufgabe der Berlin-Kultur in den letzten Jahren einfach nur darin, stellvertretend für das Land durchzuprobieren, was alles nicht mehr geht: Unmöglich ist das solide Staatstheater à la Thomas Langhoff, und unmöglich ist auch die gute alte Sozialkritik, selbst wenn sie postmodern aufbereitet wird wie von Thomas Ostermeier an der Schaubühne. Unmöglich wirkt auch der Kaviar-Revoluzzer Claus Peymann, der, als er 1997 aus Wien an das Berliner Ensemble kam, ankündigte, jetzt auch Berlin aufzumischen und sich als Pfahl im Fleische der selbstzufriedenen Politik zu betätigen. In Wien hatte er nach Belieben für Skandale und Skandälchen gesorgt, in Berlin wird er als Teil des Establishments wahrgenommen. An der Spree mußte er lernen, daß seine künstlerischen Mittel konventionell und seine große Zeit vorbei ist.

Von hier aus läßt sich die populäre Meinung, mit den modernen Verkehrsystemen, der Allgegenwart der Medien und der Vernetzung der Kommunikationsstränge habe sich die Frage des lokalen Standortes erledigt und jeder Punkt auf der Landkarte könne Zentrum und Metropole, aber auch Provinz, sein, zumindest zur Hälfte widerlegen. Die aktivierende, inspirierende, verpflichtende Gegenwart des Anderen, das Spiel mit den Verschiedenheiten, ihr täglicher Austausch, der harte Vergleich, aber auch die brutale, mitunter tödliche Konfrontation bleiben vorzugsweise das Privileg der Metropolen.

Wie die Reaktionen auf den 11. September zeigen, teilen Berliner und Nichtberliner das Gefühl, daß diese Stadt dem Schicksal wieder mal ein Stückchen näher steht als andere. Was das für die Kultur in Berlin konkret bedeutet, in welcher Weise dieser Schock in kulturelle Aktivität umschlägt, darüber ließe sich unendlich spekulieren. Klar ist nur, daß wieder eine Ernsthaftigkeit gefragt ist, die vor dem Tod als Teil des Lebens nicht länger in virtuelle Welten flüchtet. Diese kulturavantgardistische „Generation Berlin“ - zu der auch Angehörige der zahlreichen hier beheimateten ethnischen Minderheiten zählen werden - hätte ihren Namen tatsächlich verdient und die Kraft, auch andere Bereiche der Gesellschaft gründlich umzukrempeln. 


 
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