© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/01 05. Oktober 2001

 
Die Legende vom wahren Sozialismus
von Klaus Motschman

Seit dem 11. September wird das öffentlich-politische Interesse weltweit auf einen Punkt fixiert: auf die Terroranschläge in den USA. Dabei wird allerdings eine alte Grundregel für das Verhalten in militärischen und politischen Auseinandersetzungen, gerade auch dieses Ausmaßes, übersehen: daß die notwendige Konzentration der Kräfte auf die Abwehr des konkreten Angriffs nicht davon entbindet, die bisherigen Bedrohungen weiterhin ernst zu nehmen und die Flanken bzw. den rückwärtigen Raum zu sichern.

Es fehlt nicht an Beispielen aus Geschichte und Gegenwart, daß ein Ereignis wie der 11. September als Ablenkung genutzt wird, um ganz andere politische und gesellschaftliche Entwicklungen voranzutreiben. Dazu gehört unter anderem die Herausforderung durch die kräftige Reaktivierung des Sozialismus in ganz Europa, insbesondere aber in Deutschland. Eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit dem Sozialismus findet seit Jahren nicht mehr statt, weil es die intellektuellen Sympathisanten des Sozialismus verstanden haben, die Legende von der „Entartung des Sozialismus“ zur Leitlinie aller Auseinandersetzungen mit ihm zu erklären. Aktuelle Beispiele können der völlig unzureichenden Diskussion in der Öffentlichkeit um die Zukunft der PDS im Vorfeld ihres Parteitages am Wochenende in Dresden entnommen werden. Sehr naheliegende Fragen, die sich aus zahlreichen Erklärungen der PDS oder bestimmter Gruppierungen innerhalb der PDS ergeben, können kaum noch gestellt, geschweige denn ernsthaft erörtert werden, so daß die erwähnte Legende kräftig weiter wuchern kann.

Legenden spielen im Prozeß der politischen Willens- und Urteilsbildung eines ganzen Volkes bzw. bestimmter Schichten eines Volkes, zum Beispiel der Katholiken oder Protestanten, der Juden oder der Soldaten - und eben auch der Sozialisten - eine maßgebende Rolle. Sie prägen seit jeher das religiöse, kulturelle oder das politisch-gesellschaftliche Bewußtsein, vor allem aber das Lebensgefühl ganzer Generationen. Deshalb vermitteln sie bis heute wichtige Erkenntnisse zum Verständnis der geschichtlichen Entwicklung eines Volkes, und zwar nicht im Sinne einer zuverlässigen Geschichtsquelle zum Verständnis bestimmter Ereignisse, sondern zum Verständnis der Auseinandersetzungen mit diesen Ereignissen.

Das Anliegen der Legendenerzähler und -schreiber zielt gerade nicht auf eine objektiv-wissenschaftliche Klärung bestimmter Ereignisse ab, sondern auf Erklärung. mehr noch auf Verklärung im Sinne einer subjektiven Erwartungshaltung der Menschen. Legenden befriedigen damit ein seelisches Grundbedürfnis der Menschen, vor allem in Zeiten religiöser, gesellschaftlicher und politischer Umbrüche, indem sie sowohl den Einzelnen als auch eine Gruppe oder ein ganzes Volk ethisch entlasten. Die eigene Überzeugung, das eigene Verhalten, die eigene Entscheidung und das eigene Opfer waren an sich und grundsätzlich schon richtig. Nur die Ungunst der Verhältnisse und der Verrat bestimmter Finsterlinge hat zu unvorhergesehenen Wendungen geführt. Die sehr naheliegende Frage, ob mit derart „unvorhergesehen Ereignissen“ nicht hätte gerechnet werden müssen, ob die eigenen Enttäuschungen nicht auch aus eigenen Täuschungen zu erklären sind, gehört nicht in das Denk-und Handlungsschema der Legendenpflege.

Zur Veranschaulichung sei an die „Dolchstoßlegende“ nach dem Ersten Weltkrieg zu erinnern. Sie vermittelte in Anknüpfung an die damals noch allgemein bekannte Nibelungensage eine zwar nicht zuverlässige, aber einleuchtende Erklärung für die Niederlage Deutschlands im Jahre 1918: eben durch einen „Dolchstoß“ sozialistischer Agitatoren, der sogenannten Novemberverbrecher, in den Rücken des „im Felde unbesiegten Heeres“, so wie weiland der finstere Hagen den strahlenden Helden Siegfried umbrachte. Richtig ist, in einem sehr vordergründigen Sinne, daß das deutsche Heer „im Felde unbesiegt“ war. Richtig ist auch, daß es in der Heimat einige Streiks sowie in Heer und Marine einige Meutereien gegeben hat, deren psychologische Wirkungen auf die kämpfende Truppe nicht unterschätzt werden sollten. Doch waren sie wirklich kriegsentscheidend? Hätte Deutschland der militärischen und wirtschaftlichen Übermacht der Alliierten wirklich noch längere Zeit standhalten können? Doch auf eine Klärung derartiger Fragen kommt es eben überhaupt nicht an.

Die historisch-politikwissenschaftliche Forschung aller Richtungen stimmt weitgehend darin überein, daß diese Legende einen bestimmenden Einfluß auf das politische Meinungsklima in der Weimarer Republik gehabt hat und vor allem in der nationalsozialistischen Propaganda eine zentrale Rolle spielte. Während sich politische Lügen, zum Beispiel der Kriegspropaganda oder der ideologischen Agitation, über kurz oder lang mit rationalen Argumenten widerlegen lassen, führen Legenden ein langes und zähes Leben; nicht nur, weil sie ein Körnchen Wahrheit enthalten, das sie gerade noch von der offenkundigen Lüge unterscheidet, sondern weil sie das subjektive Erlebnis bestimmter geschichtlicher Abläufe nachträglich noch rechtfertigen.

Ein stets aktuelles Beispiel für diesen Sachverhalt bieten die Legenden um den „wahren Sozialismus“ bzw. um seine „Entartungen“. Sie sind so alt wie der Sozialismus selbst und bieten seit jeher vor allem der europäischen Linksintelligenz immer wieder beruhigende Erklärungen zu den offenkundigen Widersprüchen von Theorie und Praxis sozialistischer Politik. Kurt Tucholsky hat einmal bemerkt, „daß der wissenschaftliche Sozialismus erklärt, wie es alles kommen muß, und wenn es nicht so kommt, warum es nicht so kommen konnte.“

Dabei spielt die Legende von der „Entartung“ des Sozialismus eine entscheidende Rolle. Sie bestimmt mit beachtlichem Erfolg die Auseinandersetzungen über den Sozialismus seit dem Zusammenbruch des sogenannten realexistierenden Sozialismus im Jahre 1989. Es ist ein bedrohliches Kennzeichen für unsere vielzitierte politische Streitkultur, daß eine wirkliche, alle Aspekte berücksichtigende Auseinandersetzung mit den Entstehungsursachen, Erscheinungsweisen und fortwirkenden Konsequenzen der realexistierenden sozialistischen Systeme, wie zum Beispiel mit dem Nationalsozialismus, nicht stattfindet und jeder Ansatz dazu im Keim erstickt wird. Der bewußte Verzicht auf eine an den Tatsachen orientierte Auseinandersetzung mit dieser Legende erklärt sich aus der Gewißheit, daß dies ganz erhebliche Rückwirkungen auf die Entartungen und Illusionen haben müßte, die mit dem Begriff des Sozialismus verbunden werden. Dazu gehört vor allem die Illusion eines friedlichen, gewaltfreien Überganges zu einer gerechteren, menschenwürdigen und die demokratischen Rechte des Einzelnen verbürgende Gesellschaft. Sie spielen seit einiger Zeit wieder eine für die Zukunft Deutschlands und Europas belangvolle Rolle im Zusammenhang mit den verfassungsrechtlichen, politischen und sozialen Diskussionen um eine europäische Verfassung.

Viele Indizien deuten darauf hin, daß es eine sozialistische Verfassung sein wird, zumindest eine den Sozialismus begünstigende Verfassung. Deshalb die naheliegende Frage: Ist es völlig ausgeschlossen, daß abermals mit einer „Entartung“ des Sozialismus zu rechnen ist? Doch wohl nicht! Die zielstrebige Pflege und Verbreitung der „Entartungslegende“ durch die PDS und ihre linksintellektuellen Sympathisanten in allen meinungsbildenden Bereichen unserer Gesellschaft vermittelt - teils bewußt, teils unbewußt - einen Sozialismus, der sich auf alle möglichen Quellen und Ziele berufen kann, nur nicht auf Karl Marx und Friedrich Engels, Rosa Luxemburg und Lenin und sonstige Ahnherren des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus. Nicht notorische Antikommunisten, sondern die genannten Klassiker selbst haben sich gegen jegliche „Karikatur“ und „krankhafte Verzerrung“, „Fehldeutungen“ und „utopischen Phantastereien“ des Sozialismus entschieden gewehrt, womit die „Hirne der Proletarier“ betäubt werden sollen. Diese sogenannten utopischen Sozialisten, die dem „Sozialismus eine ’höhere, ideale‘ Wendung geben wollen, das heißt die materialistische Basis (die ernstes, objektives Studium erheischt, wenn man auf ihr operieren will) zu ersetzen durch moderne Mythologie mit ihren Göttinnen der Gerechtigkeit, Freiheit,Gleichheit und fraternité“ (Karl Marx, MEW 34, 303), haben nämlich das „Entscheidende im Marxismus absolut nicht begriffen: seine revolutionäre Dialektik. Sogar die direkten Hinweise von Marx meiden sie und gehen um sie herum wie die Katze um den heißen Brei.“ ( Lenin, Werke 33, 462).

Diese Sozialisten und ihre intellektuellen Assistenten sind zu vergleichen mit jenen Vortragskünstlern, die eine Stunde über Cognac sprechen können, ohne ein einziges Mal das Wörtchen Alkohol zu erwähnen. Zu den „direkten Hinweisen“ von Marx und Engels zum Verständnis des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus gehören ihre Äußerungen zur Pariser Kommune von 1871, die nach der Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg für einige Wochen die Macht an sich gerissen hatte. Es ist richtig, und das ist der wahre Kern der Entartungslegende, daß Marx und Engels zunächst vor einem Arbeiteraufstand in Paris gewarnt haben, weil das Pariser Proletariat nach Maßgabe ihrer Überzeugungen vom gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte noch nicht den notwendigen „Reifegrad“ erreicht hatte.

Tatsächlich haben sich unter den führenden Kommunarden auch nur wenige Proletarier befunden. Diese Einschätzung änderte sich jedoch sehr rasch nach dem erfolreichen Umsturz und vor allem nach den ersten Entscheidungen zur politischen und gesellschaftlichen Neuordnung in Paris. Sie entsprachen in den wesentlichen Grundzügen den Vorstellungen Marx’ und Engels’ von den notwendigen Voraussetzungen für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung und hatten deshalb, trotz einiger Kritik im einzelnen, ausdrücklich Modellcharakter. Dazu gehörten vor allem folgende Maßnahmen der Pariser Kommune:

- Zentralisation aller politischen Gewalt durch Aufhebung des Prinzips der Gewaltenteilung

- Wählbarkeit und Absetzbarkeit aller Bediensteten der Kommune und damit Abschaffung des Berusbeamtentums und der Unabhängigkeit der Justiz

- Einführung des imperativen Mandats und damit Abschaffung des Grundprinzips der repräsentativen Demokratie

- Aufhebung der Pressefreiheit und der Privattheater und damit Kontrolle der öffentlichen Meinung

- Auflösung des stehenden Heeres und Einführung einer Volkswehr

- Erklärung der Religion zur Privatsache

- Abschaffung des Religionsunterrichtes sowie Entfernung aller „religiösen Symbole, Bilder, Dogmen und Gebete aus den Schulen“

- Anwendung von Terror gegen alle konterrevolutionären Kräfte.

Gerade weil Marx und Engels die Pariser Kommune als Vorbild für die Entwicklung zur und in einer sozialistischen Gesellschaft verstanden wissen wollten, benannten sie auch sehr deutlich zwei entscheidende Fehler der Kommunarden, die zu ihrem Scheitern beigetragen haben und deshalb bei künftigen Revolutionen vermieden werden sollten: einmal die unklaren und unvollständigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen aus „Respekt vor dem Privateigentum“; sodann aber der nicht entschlossen genug praktizierte Terror gegen die Feinde der Kommune, obwohl dem Terror der Kommune ca. 500 Pariser zum Opfer fielen, darunter auch der Erzbischof. Dazu Engels: „Die siegreiche Partei muß, wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen, die ihre Waffen den Reaktionären einflößen. Hätte die Pariser Kommune auch nur einen Tag Bestand gehabt, wenn sie sich gegenüber den Bourgeois nicht dieser Autorität des bewaffneten Volkes bedient hätte? Kann man sie nicht, im Gegenteil, dafür tadeln,daß sie sich ihrer nicht umfassend genug bedient hat?“( MEW 18, 308).

Was heißt in diesem Zusammenhang „nicht umfassend genug“? Offensichtlich doch dies, daß Terror solange notwendig und gerechtfertigt ist, solange er zur Sicherung der „Errungenschaften“ einer sozialistischen Revolution erforderlich ist.

In diesem Sinne eines Vorbildes für die Sozialisten Eruropas hat August Bebel im Deutschen Reichstag erklärt, „daß der Kampf in Paris nur ein kleines Vorpostengefecht ist, daß die Hauptsache in Europa noch bevorsteht, und daß, ehe wenige Jahrzehnte vergehen, der Schlachtruf des Pariser Proletariats ’Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggang!‘ der Schlachtruf des gesamten europäischen Proletariats werden wird“ (Rede vom 25. Mai 1871). Daß es sich dabei keineswegs um eine spontane Reaktion Bebels auf die Niederschlagung der Pariser Kommune handelte, ließe sich aus einer Fülle von weiteren Äußerungen namhafter Sozialisten belegen. So schrieb Engels zum 20. Jahrestag der Kommune an hervorgehobener Stelle die programmatischen Sätze: „Diktatur des Proletariats? Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats“. (MEW 17, 625).

Es bestanden bei den maßgebenden Sozialisten also konkrete zeitliche und inhaltliche Vorstellungen vom Anbruch einer neuen Gesellschaft durch die Diktatur des Proletariats nach dem Vorbild der Pariser Kommune. Sie wurden auf vielfältige Weise popularisiert: durch die sozialistische Presse, durch Broschüren, Plakate, Karikaturen, Volksreden und sonstige Aufrufe „zum letzten Gefecht“. Sie ließen durch die Wortwahl, die Symbolik und Darstellungsweise keine Zweifel, wie man sich dieses „letzte Gefecht“ vorzustellen hatte. Mit den Worten Rosa Luxemburgs, ebenfalls an hervorragender Stelle: „In diesem letzten Klassenkampf der Weltgeschichte um die höchsten Ziele der Menschheit gilt dem Feinde das Wort: Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust.“ („Was will der Spartakusbund?“, l4. Dezember 1918).

Dieses Wort läßt wegen seiner Eindeutigkeit keinen Spielraum für verklärende Interpretationen, ganz im Unterschied zu der vermeintlichen Forderung von „Freiheit für die Andersdenkenden“, einer beiläufigen Fußnote ohne Einordnungshinweis (siehe JUNGE FREIHEIT 37/01). Einige kritische Äußerungen zur Oktoberrevolution Lenins können nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie diese Revolution grundsätzlich bejaht hat. Die Bolschewiki haben „durch ihre entschlossene revolutionäre Haltung, ihre vorbildliche Tatkraft und ihre unverbrüchliche Treue dem internationalen Sozialismus wahrhaftig genug geleistet“ ( Werke 4, 364). Im Zusammenhang mit der Kritik an der so „reichlichen Anwendung des Terrors durch die Räteregierung“ hat sie das bekannte Wort geprägt, „daß Revolutionen nicht mit Rosenwasser getauft werden“. Von einer Entartung des Sozialismus kann also weder bei Lenin noch bei Rosa Luxemburg gesprochen werden, sondern von einer sehr konsequenten Entfaltung der von Karl Marx und Friedrich Engels im Zusammenhang mit der Pariser Kommune dargestellten Grundsätze einer sozialistischen Gesellschaftsordnung.

Es stellt sich die Frage, warum diese eindeutig belegten Tatsachen in der Auseinandersetzung um den Sozialismus so gut wie kaum noch beachtet werden.

Dafür gibt es nur zwei Erklärungen: Entweder kennen die Mitglieder der PDS, ihre politischen Koalitionspartner und intellektuellen Sympathisanten diese Zusammenhänge wirklich nicht, - dann stellt sich die Frage, warum sie im Blick auf den Sozialismus Urteile abgeben, die mit der Wirklichkeit absolut nichts zu tun haben. Oder aber sie kennen diese Zusammenhänge und verschweigen sie aus naheliegenden politischen Gründen bewußt - dann stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit des immer wieder behaupteten Wandels der PDS zu einer demokratischen Partei „wie jede andere auch“.

Warum ist unsere Mediokratie um eine Aufklärung dieser Fragen nur unzureichend bemüht? Immerhin stehen wir am Beginn einer Neuordnung Europas. Soll sie wirklich nach dem sozialistischen Vorbild der Pariser Kommune vollzogen werden? Der Verlauf und die Beschlüsse des Parteitages in Dresden an diesem Wochenende sollten deshalb sehr genau beobachtet werden: im Blick auf die politischen Entwicklungen in Berlin, in Deutschland und in Europa.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin. Im Forum der JUNGEN FREIHEIT veröffentlichte er zuletzt den Aufsatz „Bloß kein Antikommunismus“ (JF 33/01).


 
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