© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/01 28. September 2001

 
Wir sind Afghanistan
Die kulturkritische Nachlese des New Yorker Terroranschlags weist Besonnenes, aber auch Bedenkliches auf
Silke Lührmann

Wir sind alle Amerikaner“ ist zunächst ein mitmenschliches, kein politisches Bekenntnis, mehr Beileidserklärung als Beistandspflicht. Vor gut zehn Jahren waren wir alle wahlweise Kuwaitis oder Iraker, auch Israelis oder Palästinenser sind wir irgendwie alle ein bißchen, und nachdem der erwartete Vergeltungsschlag erfolgt ist, wird es - weniger vehement zwar - heißen: „Wir sind Afghanistan.“

Müssen wir Afghanistan werden? Die Frage führt auch in eine andere Richtung, in die unserer gesellschaftlichen Zukunft. In diesen Tagen scheint es, als kenne das junge Jahrtausend nur noch zwei Wege: den Fanatismus des Ostens, wo Gott alles ist, oder den Hedonismus des Westens, wo alles - so auch Gott - Lebensstilentscheidung ist. Wüstenwahn gegen Profitgier; Koran statt Dow Jones; Osama bin Ladens hager-asketisches Antlitz oder die feiste Fratze des George W. Bush; „Dschihad“ gegen eine nicht nur wirtschaftlich globalisierte „McWorld“: der Kampf um die Weltherrschaft wird, wie Werner Olles vergangene Woche in der JUNGEN FREIHEIT dramatisierte, zwischen Allah und Mickymaus ausgetragen. Die Schwarz-Weiß-Kontraste drängen sich auf und sind genauer gesagt Schwarz-Bunt-Kontraste. Baal Müller stellte die sinnliche Überreizung der Konsumgesellschaft - die „beliebig erzeugbaren virtuellen Bilder, hinter denen man die Realität zuweilen zu vergessen beliebte“ - den „weltverneinenden Fanatikern einer bildlosen Religion“ gegenüber.

Amerika oder Afghanistan: Auf der einen Seite die totale Abstinenz, auf der anderen die totale Trunkenheit, auf beiden ein Streben nach weltweiter kultureller und politischer Gleichschaltung. Das „Dazwischen“ eines dritten Weges kann es nicht geben - behauptet zumindest Präsident Bush, denn „wer nicht mit Amerika ist, ist gegen uns“.

Daß sich nach dem Ende des Kalten Krieges diese neue Bipolarität in die Welt geschlichen hat, beweist nur, wie wenig der Sieg des Kapitalismus die Menschheit insgesamt beglückt. Während sich das kommunistische Heilsversprechen genauso wie das kapitalistische aus Rationalismus, Aufklärung und Industrialisierung speiste, haben wir es nun mit einer exotischeren Utopie zu tun, die sich den Verlockungen des Westens bislang resistent gezeigt hat. Der „geheimnisvolle Orient“ meldet sich in der Geschichte zurück - hungriger und entschlossener, als seine Kolonialherren je waren.

Was am 11. September - vor unseren Augen und in unseren Köpfen - geschah, war nicht so sehr ein „Realitätsgewinn“, sondern ein Paradigmenwechsel: die Ablösung einer Weltsicht durch eine andere, düstere. Wo eben noch die Ikonen des Fortschritts siegesgewiß in der Sonne schimmerten, schwelen Geröll und Gerippe. Unter den Trümmern, glaubt Carl Gustaf Ströhm, liege die Spaßgesellschaft begraben. Zeugen aus New York berichten, wie sich die hochmütige, selbstherrliche beschleunigte Metropole - die Stadt, die „niemals schläft“ - in einen gespenstischen Ort verwandelt hat, dessen Menschen vor Angst nicht mehr schlafen können.

Daß nun ausgerechnet Anlagespezialisten - die verhaßten Yuppies des späten 20. Jahrhunderts, perfektes und perverses Endprodukt der protestantischen Arbeitsethik - zu Märtyrern für die „zivilisatorischen Werte“ geworden sind, wäre ironisch, wenn es Zufall wäre. Die letzten Worte der Todgeweihten sind dank moderner Technologie, dank E-Mail, Mobilfunk und Anrufbeantworter überliefert. Eine tragische Poesie umflort die Namen der Finanzhäuser - Cantor Fitzgerald, Condor Nasté, Morgan Stanley, Merrill Lynch -, wie sie sonst das Gedenken an verlorene Schlachten und gefallene Helden veredelt.

„Quo vadis, Spaßgesellschaft?“-Propheten haben momentan nicht nur in der konservativen Presse Konjunktur, deren Unkereien einer schadenfrohen Gehässigkeit nicht entbehren - Kassandras, die endlich Gehör finden. Die Abkehr von der Vergötterung des Geldes ist überfällig. Muß aber eine Rückbesinnung auf weniger inflationäre Werte zwingend bedeuten, uns wieder mit Haut und Haaren der Religion zu verschreiben? Wer konsequent religiös motiviert handelt, handelt jenseitig motiviert. Ihm kann es nicht darum gehen, die Welt zu flicken, sondern seine eigene Seele in Sicherheit zu bringen. „Mit Gott“ zu handeln heißt (auch), mit Gott einen Handel zu tätigen. Franz Alt hat in der letzten Ausgabe der JUNGEN FREIHEIT darauf hingewiesen, daß es auch in god’s own country, den USA, nicht an heiligen Kriegern mangelt, die sich einer mörderischen „Kreuzzug“-Rhetorik bedienen. Das mittelalterliche Christentum, der Puritanismus der neuenglischen Gründerzeit waren kaum minder freudlose, fanatische, weltverneinende, intolerante Glaubenslehren als der heutige Islam.

Die Maßlosigkeit der terroristischen Gewalt maßlos zu beantworten ist ein Zeichen von Schwäche, nicht von Stärke, weil eine solche Reaktion die Bedingungen der Terroristen akzeptiert. Ebenso schwach, ja erpreßbar wäre es, den moralischen Forderungen nachzugeben, die die „Gotteskrieger“ an den „gottlosen“ Westen stellen. Auch damit begäben wir uns auf das Niveau der Weltverneiner, auch dann hätten sie gewonnen. Die ersten Bilderverbote wurden schon erteilt: Kinofilme abgesetzt, CDs eingezogen, auf deren Cover die Skyline von Manhattan brennt. Denkverbote hängen allseits - links, rechts, mittenmang - unausgesprochen in der Luft, immerhin dies eine Errungenschaft demokratischer Meinungsfreiheit: Im Pluralismus der Konsense schmiedet jedes Grüppchen seine eigenen Tabus. Allerdings hat Innenminister Otto Schily bereits gedroht, jetzt sei „keine Zeit für philosophische Haarspaltereien“.

„Wenn man nun Krieg führt“, so sagte Peter Scholl-Latour der JUNGEN FREIHEIT beifällig im Interview, „dann kann man hier keine Love Parade mehr veranstalten.“ Falsch, denn den Verantwortlichen gelänge es sicherlich unschwer, die Love Parade in eine Pepsi-gesponserte Solidaritätskundgebung umzufunktionieren - womit sich auch ihr Status als Demonstration endlich rechtfertigen ließe. Doch so frivol, so zynisch muß man gar nicht denken. Wie kann man den Tod, den schnellen Feuertod oder das langsame Abtöten aller menschlichen Regungen, das die Hingabe an Götzen wie an Götter verlangt, anders entmachten, als - im vollen Bewußtsein der Sterblichkeit - das Leben zu feiern? Sonst wird tatsächlich überall Afghanistan. 


 
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