© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001

 
Echte Herzen, schlechte Scherze
Warum Filmzensur kein einziges Menschenleben rettet: Tödlich ist nur die Gewalt der Geschichte, nicht die Gewalt in Geschichten
Silke Lührmann

Die Bilder, die seit dem vergangenen Dienstag wieder und wieder und wieder über die Fernsehschirme flimmern, hatten wir schon oft gesehen. Sie waren die Kulisse, vor der sich kollektive Alpträume abspielten, und warteten auf Steven Seagal, Bruce Willis oder Sylvester Stallone, der die Welt rettet und uns wieder an das Gute und Heldische im Menschen glauben läßt. Die Menschen, die aus den Fenstern des World Trade Centers in ihren Tod stürzten, hätten digitale Pixel sein können, ihre Schreie im Tonstudio fabriziert.

Kein Wunder, daß die gebannten Zuschauer mit einer Art genüßlichem Grauen reagierten, genau wie man es aus dem Kino kennt. Die Kommentare, die Passanten einander im Supermarkt, auf den Berliner Straßen oder in der U-Bahn zuriefen - „Habt ihr schon gesehen? Echt cool!“, „Geil!“, „Klasse!“ - waren zunächst ästhetisch und dann erst politisch gemeint. Die Faszination, mit der man sich bald der Logistik der Anschläge zuwandte, glich einem Interesse an filmischen Tricks und Effekten oder an den Details einer verzwickten Handlung.

In Kalifornien holten Radiowecker ihre Besitzer am Dienstagmorgen nicht mit Musik aus dem Schlaf, sondern mit einer Nachricht, die manche zuerst für einen üblen Scherz hielten. Ein paradigmatischer Moment der Mediengeschichte wiederholte sich mit umgekehrten Vorzeichen: Als H. G. Wells’ Hörspiel „War of the Worlds“ am Halloween-Tag 1938 erstmals ausgestrahlt wurde, glaubten viele verängstigte Radiohörer an einen echten Katastrophenalarm und brachen in Panik aus.

„Der Krieg ist da“, hieß es spontan, und man mußte nicht literaturwissenschaftlich geschult sein, um „endlich“ zu verstehen: Endlich fängt die Geschichte wieder an; endlich ist etwas passiert, das es wert ist, „Betroffenheit“ kundzugeben, eben weil wir nicht (noch nicht) betroffen sind; endlich haben auch wir ein tragisches Datum, das sich so unauslöschlich in das Gedächtnis unserer Generation einfräst wie die Ermordung John F. Kennedys in das unserer Eltern: „Wo warst du, als New York brannte?“ wird auf Jahre hinaus eine erfolgreiche Anmache bleiben. Dasselbe Bedürfnis, an der Geschichte teilzunehmen - „dabei“ gewesen zu sein -setzt sich nun in Trauermärschen, Kondolenzbüchern, Schweigeminuten und abgesagten Veranstaltungen fort.

„Gott stehe uns bei“, schrieb Dieter Stein letzte Woche. Aber wenn es einen Gott gäbe, der kein feixender Sadist ist, hätte er sich schon längst angewidert von seiner mißlungenen Schöpfung abgewandt. Nein, Gott wird uns genausowenig helfen wie Arnold Schwarzenegger. Was aber dann? Den Spaß abschaffen, sagt (nicht nur) Peter Scholl-Latour, damit die Bösen uns Guten ernst nehmen. Die zahlreichen ausgefallenen Konzerte, Theatervorführungen, Partys und Lesungen der letzten Woche, die Überlegung, das Oktoberfest abzusagen, der Trauerflor bei den Bundesligaspielen sind Schritte in die richtige Richtung; Dr. Motte, der geistige Vater der Love Parade, organisiert derzeit Kerzenwachen. Als nächstes wird - wie immer, wenn die Politiker und Moralapostel nicht weiterwissen - der Fantasie ein Knebel angelegt. Filme, in denen Bombenattentate, Feuerbrünste, Explosionen oder die Zwillingstürme des World Trade Center vorkommen, sollen dem Publikum offenbar in diesem Herbst vorenthalten werden, allen voran „Collateral Damage“ und „Spiderman“, deren US-Premieren sofort abgesetzt wurden. Warner Bros. Deutschland fühlte sich gar berufen, den hiesigen Kinostart von Steven Spielbergs „A.I. - Künstliche Intelligenz“ am letzten Donnerstag zu rechtfertigen, weil dort die Menschen aussterben, ihre Turmbauten aber weiter gen Himmel ragen. Von seiten der Produzenten mag dies nicht unklug kalkuliert sein, denn die spektakulärsten computergraphischen Effekte werden nicht an die perfekte Choreographie des 11. September heranreichen können.

Ob die Welt auf chauvinistische Gewaltorgien wie „Armageddon“, „Godzilla“ oder „Independence Day“ verzichten kann, sei dahingestellt. In den Lauf der Geschichte greift ein Verbot von Geschichten nicht ein. Fiktion kann sich nur in einem Rahmen bewegen, der über die Wirklichkeit zwar hinausgeht, aber von ihr vorgegeben ist. Nur was technisch machbar, nur was überhaupt vorstellbar ist, kann zur Darstellung gebracht werden. Menschen live beim Sterben zuzusehen ist ein Tabu, das sich normalerweise nicht so leicht brechen läßt. Von der Existenz entsprechender Filme - sogenannter snuff movies, in denen echtes Menschenleben ausgehaucht wird, munkelt man immer wieder. Derzeit läuft ein solcher Film ganz legitim zur allerbesten Sendezeit - nämlich ununterbrochen - auf sämtlichen Kanälen, öffentlich-rechtlichen und privaten. Wer braucht da noch die Unterhaltungsindustrie?

Fest steht auch, daß in der Marktwirtschaft jedes Angebot eine vorhandene Nachfrage bedient, bevor es neue schafft. Schon immer haben Menschen sich Geschichten erzählt, nicht nur, um ihrer oft elenden, oft einfach nur langweiligen Wirklichkeit zu entfliehen, sondern vor allem, um ihr einen Sinn zu verleihen, eine Bedeutung und das Gefühl, auf etwas gerichtet zu leben. So dauerte es auch an jenem Dienstag nicht lange, bis die PR-Maschinerie anrollte und ein cleverer CNN-Kopf den Slogan „America under Attack“ kreiert hatte, der von nun an durch die Berichterstattung begleitete: Stichwortgeber für zahlreiche dankbare Kommentatoren, die nahtlos von Welthandel und amerikanischer Außenpolitik zum „Herz der abendländischen Zivilisation“ übergehen und dabei die toten und sterbenden Menschen auslassen konnten. Denn wer „Tote“ sagt - und nicht „tote Amerikaner“ oder „tote Finanzexperten“ -, muß auch von den anderen Toten reden, die jährlich, täglich, stündlich umkommen: nicht nur, aber auch nicht zuletzt infolge von Welthandel und amerikanischer Außenpolitik.

Nur mathematisch sind fünftausend Menschenleben mehr wert als eins. Jedes Opfer von Gewalt ist genau ein Menschenleben wert. Nicht mehr und erst recht nicht weniger. Diese Erkenntnis ist dem Hollywood-Film wiederum nicht fremd - das Drama lebt vom Einzelschicksal -, er verkehrt sie bloß: Ein einziger Tom Hanks in der Rolle des Private Ryan ist unzählige Statisten und unbekanntere Schauspieler wert. Solange der Superheld überlebt oder zumindest für den Endsieg des Guten stirbt, sind die Leichen, über die er gegangen ist, Kollateralschäden.

Daß der Mensch schlecht ist, wissen wir längst: aus der Wirklichkeit und aus den Geschichten, die wir über sie erfinden. Wie schlecht er ist, werden wie wohl nie genau wissen, und diesen Zweifel würde sich kein guter Action-Thriller leisten. Immerhin, so müßte er dem Zuschauer vorführen, gibt es weltweit keine Organisation, die so beträchtlich davon profitieren wird, daß der Horror des 11. September geschehen konnte, wie die Bush-Administration.

Katastrophenfilme, die keine schicksalhafte, gottverfügte Tragödie inszenieren, sondern von Menschen gewolltes und verursachtes Leid, haben eine weitere Funktion, die den Mächtigen und Meinungsmachern in den letzten Tagen nicht ungelegen kommen konnte. Indem sie ihr Publikum lehren, bestimmte Bevölkerungsgruppen zu hassen und zu fürchten, vereinfachen sie die Suche nach Schuldigen. Mit „Ausnahmezustand“ (1998) exerzierte Edward Zwick den Ernstfall vor: Nach einem Terroranschlag muslimischer Extremisten interniert die amerikanische Regierung alle auf ihrem Territorium lebenden Araber. In Mimi Leders „Projekt: Peacemaker“ (1997) ist es ein finsterer Serbe, der Manhattan in Angst und Schrecken versetzt. Mit Roland Emmerichs Film „Independence Day“ (1996), in dem Außerirdische die Welt verwüsten, hadert die Kulturwissenschaft, denn der Begriff alien bezeichnet einen Außerirdischen, ist aber auch amtlicher Sprachgebrauch für Personen nicht-amerikanischer Herkunft.

Daß die Rache des George W. Bush nicht minder fürchterlich sein wird als die jedes anständigen muskelbepackten, atomar gerüsteten Rambo, steht außer Frage. Fraglich bleibt höchstens, wer hinterher lebend das Kino verlassen und nach Hause gehen darf.


 
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