© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001

 
Massengrab der Spaßgesellschaft
Kulturkonflikt: Gläubige Moslems verachten den gottlosen Westen, fühlten sich ihm aber bislang unterlegen
Carl Gustaf Ströhm

Nach den Selbstmord-Anschlägen ist nicht nur Amerika, sondern der ganze Westen gegenüber dem Islam in eine widersprüchliche Haltung geraten: Einesteils wird immer wieder betont, die Attentate seien das Werk islamischer Fanatiker und Fundamentalisten, andererseits betont man, es gäbe Hunderttausende, ja Millionen braver, „anständiger“ Muslime (auch in westlichen Ländern), die mit Terror nichts zu tun haben wollten. So rühmte etwa der Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) öffentlich die vielen loyalen moslemischen „Mitbürger“ in seinem Hamburger Wahlkreis - obwohl gerade Hamburg mindestens zweien der New Yorker Attentäter offenbar als Vorbereitungsbasis diente.

Zuschauern des ORF wurde das Problem eindringlicher vor Augen geführt: Im Zuge der Katastrophenmeldungen aus New York wurde der Chef der islamischen Religionsgemeinschaft Österreichs interviewt: Ein freundlicher, älterer Herr, der betonte, die hier lebenden Muslime seien gegen Extremismus und Fanatismus und für den Dialog. Im gleichen Augenblick aber öffnete sich eine Tür - und herein trat eine junge Frau, offenbar die Sekretärin mit Papieren in der Hand. Sie war von Kopf bis Fuß verschleiert und trug das typische Kopftuch und einen Rock bis zu den Knöcheln. Hier bereits wurden die Grenzen eines „islamisch-christlichen Dialogs“ sichtbar.

Dieses Dilemma betrifft nicht nur ein einziges europäisches Land. Der Islam ist gewiß eine große Weltreligion mit vielen Verästelungen und inneren Widersprüchen. Es ist auch klar, daß die Mehrzahl der Moslems keine Selbstmörder sind - nur eine ganz kleine Minderheit ist bereit, aus den eigenen Gefühlen solche letzten Konsequenzen zu ziehen.

Dennoch - ohne das breite Flußbett des ganz normalen, nicht gewalttätigen Islam als Basis hätten sich die Selbstmordattentäter nicht jahrelang auf ihren Tag X vorbereiten können. Gerade weil amerikanische und deutsche Behörden davon ausgingen, daß es sich um friedfertige Leute handelte, konnten sie ungestört in Hamburg studieren und in Florida ihre Pilotenausbildung absolvieren.

Der Islam aber ist - auch hier zeigt sich ein verhängnisvoller westlicher Irrtum - keine Religion im westlichen, verwässerten und relativierten Sinne. Er ist zugleich eine politische und gesellschaftliche Lehre, die das Zusammenleben der Menschen bis in Kleinigkeiten bestimmt. Der Islam strebt im Prinzip einen Gottesstaat an - also das genaue Gegenteil des westlichen Säkularismus. Der Begriff „Toleranz“ ist unbekannt. Nur ein islamischer Staat und eine islamische Ordnung sind für den gläubigen Moslem vollkommen, alles andere kann bestenfalls Übergangs- oder Notlösung sein.

Entscheidend aber ist, daß der Islam das „westliche Wertesystem“ nicht akzeptiert. Menschenrechte, Demokratie, Säkularisierung (auf die sich der Westen beruft) sind dieser Religion fremd. Im gesamten arabischen und nahöstlichen Raum - von Marokko bis Pakistan und weiter bis Zentralasien - gibt es keine einzige Demokratie westlicher Prägung und nicht einmal einen Rechtsstaat. Selbst die (bis jetzt) treuesten Verbündeten des Westens in diesem Raum - etwa Ägypten, Saudi-Arabien, sogar die Emirate am Golf und Tunesien - sind mehr oder weniger getarnte Diktaturen. Der gleiche Westen, der auf dem Balkan aktiv und militant bei (gewissen) Menschenrechtsverletzungen interveniert, schweigt angesichts gewisser Vorgänge in Saudi-Arabien oder Ägypten. Warum wohl?

Überdies wird vergessen, daß der Islam eine kämpferische Religion ist. Was das bedeutet, haben die Menschen im südöstlichen Teil Europas bis heute nicht vergessen: Die verheerenden Türkenstürme bis vor die Tore Wiens haben im kollektiven Unterbewußtsein tiefe Spuren und Mißtrauen gegenüber dem Islam hinterlassen. Der Tod im Kampf gegen die Ungläubigen ist für den gläubigen Moslem nicht nur ehrenvoll, sondern verschafft ihm als Märtyrer alle Freuden des Paradieses. Hinter den Attentätern von New York steht also inbrünstiger, tiefer, religiöser Glaube. Natürlich ist so etwas in unseren Augen verabscheuungswürdig und pervertiert - aber die islamischen Volksmassen sehen (vielleicht insgeheim, weil sie es angesichts der jetzigen Situation nicht zu sagen wagen) in den Entführern nicht Massenmörder, sondern Märtyrer und Helden des Islam. Und es bedarf keiner Phantasie, um sich vorzustellen, daß nach diesem „Triumph“ bereits die Nachfolgegeneration sich innerlich vorbereitet, einen ähnlichen Weg zu gehen: Wenn sich der aufgescheuchte Westen wieder beruhigt hat. Was in den Köpfen vieler Muslime in diesen Tagen vorgeht, bleibt im Dunkeln. Sicher ist nur: Die Zahl jener, die in ihrem Herzen der Meinung sind, diesen hochmütigen Ungläubigen, welche tagtäglich die islamische Welt demütigen, sei recht geschehen, nimmt zu.

Ob Osama bin Laden wirklich alle Fäden des Terrorismus in der Hand hält, muß bezweifelt werden, sonst wäre mit der Ausschaltung seiner Person das Problem gelöst. Sicher aber ist, daß Leute seines Schlages die westliche Welt hassen und verachten. Sie sehen im Westen, vor allem in den USA, die Verderber traditionell islamischer Werte. Hier aber treffen sie sich mit unzähligen „kleinen“ Moslems - etwa mit jenen in Deutschland lebenden und angeblich „integrierten“ Vätern, die ihren Töchtern die Teilnahme am Sportunterricht verbieten, weil sie die Entblößung des weiblichen Körpers für obszön und gotteslästerlich halten. Was für einen „christlich-islamischen Dialog“ will man mit ihnen führen? Sie halten unsere Zivilisation für gottlos, verkommen und schlecht.

Der Dialog kann also nur darin bestehen, daß der Schwächere nachgibt - und das ist, so grotesk es erscheinen mag, trotz all seiner materiellen Überlegenheit - der Westen. Am Ende akzeptiert er die islamische Kleiderordnung (verschleierte Frauen) bei sich - der Islam aber verlangt von den Westlern, sich an seine eigene Kleiderordnung zu halten.

Gerade die Präzision, der (manchmal fragwürdige) Glanz, der Reichtum und die Macht des Westens lösen bei den islamischen Volksmassen - aber auch bei der jungen Intelligenz der islamischen Länder - Minderwertigkeitskomplexe und ein Gefühl der Ohnmacht aus. Man fühlt sich immer wieder gedemütigt und in seinem Stolz verletzt. Der Westen führt den Moslems tagtäglich vor Augen, daß sie ihm unterlegen sind: wirtschaftlich, militärisch, organisatorisch. Jeder israelische Panzer, der durch ein palästinensisches Dorf rollt, jedes US-Kriegsschiff im Golf stellt in diesem Sinne in den Augen vieler Araber eine Provokation dar.

Verletztes Ehrgefühl hat im Leben des einzelnen Menschen wie der Völker schon oft verheerende Folgen ausgelöst.

In diesem Sinne hat Samuel P. Huntington recht: Ob wir wollen oder nicht, hat ein Konflikt der Zivilisation begonnen. Der US-Präsident steht unter stärkstem Druck: Denn nun haben die „erniedrigten und beleidigten“ arabischen Terroristen ihrerseits das Volk der USA im wahrsten Wortsinne „tödlich“ beleidigt. Sie haben das Selbstwertgefühl der Amerikaner schwerstens angeschlagen. Der jetzt manifestierte Patriotismus (und Nationalismus) der Amerikaner erinnert ein wenig an den beleidigten deutschen Nationalismus zur Zeit des Versailler Vertrages nach 1918.

Das angeschlagene amerikanische Selbstwertgefühl kann nur wiederhergestellt werden, wenn die tausendfach gezeigten Bilder von den einstürzenden WTC-Türmen durch neue, „siegreiche“ Bilder überlagert und verdrängt werden. Deshalb muß Bush einen „Feuerzauber“ befehlen. Aber wer soll getroffen werden: Die „barfüßigen“ Taliban in ihren zerlumpten Kaftanen? Was geschieht mit den pro-westlichen, islamischen Regierungen? Türmen sich da nicht neuer Haß und neue Irrationalität auf? Viele Fragen und wenige Antworten: Die Spaßgesellschaft könnte unter den Trümmern von Manhattan begraben worden sein.


 
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