© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   39/01 21. September 2001


Tragödie des Westens
Der Führungsanspruch der USA muß in Frage gestellt werden
Dieter Stein

Ernüchterung stellt sich eine Woche nach den Terroranschlägen auf die USA ein. Nachdem alle europäischen Regierungen, voran die deutsche, US-Präsident George Bush einen Blankoscheck für militärische Reaktionen, „unbeschränkte Solidarität“, ausgestellt haben, kommt nun Katerstimmung auf. Die blutrünstigen, kitschigen, chauvinistischen Kommentare der Boulevardpresse werden langsam von nachdenklicheren Tönen abgelöst.

Die Erkenntnis setzt sich durch, daß mit dem Gerede über Krieg, Vernichtung und Vergeltung nichts gewonnen ist. Man weiß noch nicht einmal, wen man denn überhaupt angreifen soll.

Die demonstrativen Bekundungen der Stärke und des Abwehrwillens können nicht überdecken, daß die USA und mit ihnen „der Westen“ einen empfindlichen Schlag bekommen haben. Den Attentätern ist es gelungen, die Unverwundbarkeit der amerikanischen Supermacht zu entzaubern. Es ist ihnen gelungen, den Nimbus der Sicherheit des Landes zwischen pazifischem und atlantischem Ozean zu zerstören. Es ist ihnen gelungen, den Optimismus des „Westens“ nach ewigwährender Prosperität und wirtschaftlicher Expansion zu zertrümmern.

Es ist deshalb ein Irrglaube, wenn man meint, die hinter dem Attentat stehenden politischen Ursachen mit der Formel des „Terrorismus“ zu einem beherrschbaren polizeilichen Problem zu reduzieren. Im Gegenteil, es entspricht der Logik des entfesselten Terrors, die USA, den durch sie angeführten und repräsentierten „Westen“ in die Defensive zu drängen und ihn zu zwingen, sich auf die kriegerische Ebene zu begeben.

Was hätten die Angreifer, die die Linienflugzeuge kaperten und auf die Symbole amerikanischer ökonomischer und politischer Macht lenkten, über die Demütigung hinaus bezwecken sollen, als die USA eben zu nötigen, vom verdeckten in den offenen Krieg überzugehen und sichtbar die Auseinandersetzung mit dem Feind zu suchen? Die USA und ihre Verbündeten sind nun gezwungen - und das war die Absicht der Attentäter -, ihren auf Friedfertigkeit getrimmten Gesellschaften einzugestehen, daß man sich im Kriegszustand mit anderen Weltregionen befindet.

Man spricht im Zuge des Angriffs vom 11. September 2001 auf die USA von einer „Entstaatlichung des Krieges“. So neu ist dieses Phänomen aber nicht. Wie Peter Scholl-Latour im Gespräch mit dieser Zeitung bekräftigt, hat die „Entstaatlichung des Krieges“ unter Federführung insbesondere der USA und amerikanischer Wirtschaftsunternehmen seit Jahrzehnten stattgefunden. Es ist dabei keineswegs vermessen, den USA eine Vaterschaft für internationalen Terrorismus zuzubilligen. Osama bin Laden ist nur eine der schillerndsten Figuren, deren kämpferische Qualitäten nur so lange nicht als „Terrorismus“ bezeichnet wurden, solange sie den Interessen der USA dienten. Der amerikanische Geheimdienst hat die Terrorgruppen von heute in der Vergangenheit zum Teil als Helfershelfer mit ausgebildet. Nun richten sie sich aber gegen die USA selbst.

Wenn man unvoreingenommen über die Lehren jener historischen Zäsur nachdenken will, die durch die mörderischen Angriffe in New York und Washington ausgelöst wurde, so sind grundsätzliche politische Fragen zu stellen:

- Ist der Führungsanspruch der USA in Zukunft noch haltbar?

- Ist der Anspruch auf Universalität „westlicher Werte“ angesichts einer Pluralität der Kulturen noch aufrechtzuerhalten?

- Welche Ursachen für die „fundamentalistische“ Reaktion insbesondere in der islamischen Welt liegen in der unter Führung der USA betriebenen Wirtschaftspolitik der - notfalls gewaltsamen - Marktöffnung durch die Industriestaaten des „Westens“ begründet?

In einem nachdenklichen Beitrag gibt der amerikanische Schriftsteller Norman Mailer dieser Tage eine mögliche Antwort: „Die Amerikaner sollten daher endlich begreifen lernen, weshalb so viele Menschen ihr Land verabscheuen. Denn was die Amerikaner einfach nicht anerkennen wollen, ist, daß große Teile der Welt und besonders die zurückgebliebenen Nationen uns als ihre kulturellen und ästhetischen Unterdrücker sehen. (...) Viele Menschen ärgern sich sehr über diese Dinge. Sie haben kein Geld, keine komfortablen Häuser, keine demokratischen Regierungen, aber was sie haben, sind Wurzeln. Das ist alles, was sie haben, und die werden ihnen weggenommen. Amerika nimmt sie ihnen weg. Bis Amerika den Schaden begreift, den es anrichtet, indem es darauf besteht, daß der amerikanische, auf Profit ausgerichtete ’way of life’ nicht notwendigerweise zu allen Ländern paßt, werden wir in Schwierigkeiten sein. Wir werden die meistgehaßte Nation der Erde sein.“

Die „Globalisierung“, „in Wahrheit die globale Amerikanisierung“ (Scholl-Latour) wird stets als friedliche Entwicklung verniedlicht. Die „Durchdringung“ anderer Kulturen mit den Werten des „Westens“ wird als glückbringender, unausweichlicher geistiger Prozeß propagiert. Aus Sicht der betroffenen Kulturen stellt sich dies jedoch als Auflösung, als Überfremdung, als Untergang dar. Die als Kosmopolitismus verbrämte Arroganz des Westens gipfelt in der überheblichen und anmaßenden Selbststilisierung als „zivilisierte Welt“ im selbstverständlichen Unterschied zum barbarischen Rest. Kaum furchtbarer demütigen könnte auch der amerikanische Präsident die gesamte islamische Welt mit dem unüberlegten Satz vom „Kreuzzug“, den die USA nun in Gang setzen wollen. Dieser „Westen“ scheint die Botschaft des 11. September immer noch nicht verstanden zu haben.

Nüchtern konstatiert der Publizist Erich Böhme: „Die Rolle des Weltpolizisten ist dahin, der die einen gegen die anderen ausspielen kann. (...) Der Krieg findet jetzt im eigenen Hinterhof statt, im eigenen Wohnzimmer ohne Kriegserklärung und mit einer Brutalität gegen Menschenleben, die bisher unvorstellbar war.“ Die USA bekommen erstmals seit ihrem Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert Folgen kriegerischer Handlungen im Herzen ihres Landes zu spüren.

Deutschland demonstriert indessen erneut, daß es keinen von den USA unabhängigen politischen Faktor in Europa spielen will. Hierfür kennzeichnend ist, wie der für die tonangebende Boulevard-Presse in Deutschland verantwortliche Springer-Verlag einen Tag nach den Terroranschlägen seine seit fünfzig Jahren existierenden verlegerischen Grundsätze um folgenden Passus ergänzt: „Die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika.“ Wir sind alle Amerikaner?

Während in Frankreich stets eine Distanz zur amerikanischen Sicherheits- und Außenpolitik herrscht, hat sich Deutschland Amerikatreue zu Staatsräson erhoben. Deutschland ist auch dazu verdammt. In der Krise nach dem 11. September wurde nicht nur schlagartig die Verwundbarkeit der amerikanischen Supermacht deutlich, der Berliner Regierung wurde vor Augen geführt, daß sie kaum handlungsfähiger ist als das Fürstentum Liechtenstein. Berlin hat keine ernstzunehmende, von den USA unabhängige eigene Aufklärung. Die Bundesregierung sieht CNN, wenn sie wissen will, was in der Welt los ist. Und sie ist nach der Kaputtschrumpfung der Bundeswehr der Außen- und Sicherheitspolitik der Amerikaner auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Angesichts einer solchen Lage gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder richtet sich Deutschland in diesem Status ein - und danach sieht es aus -, oder es emanzipiert sich. Das bedeutete aber, Abschied von der konfliktfreien Spaßgesellschaft, von der Vorstellung immerwährenden Schönwetterperioden zu nehmen, und die Bereitschaft zu eigenständigen außen- und sicherheitspolitischen Risiken. Es sind Zweifel angebracht, ob die deutsche politische Klasse dafür das nötige Mark in den Knochen hat.

Die USA sind de facto eine imperialistische Kolonialmacht, die im Namen des „Westens“ und seiner Werte rund um den Globus antritt, ihre Interessen zu vertreten. Deutschland und Europa lassen sich willentlich hierfür mit in Haftung nehmen und in Konflikte der USA hineinziehen, die nicht ihre sind.

Der Kampf gegen terroristische Bedrohung ist nur zu gewinnen, wenn er nicht mit dem Hochmut von Kolonialoffizieren, sondern gemeinsam mit der islamischen Welt geführt wird. Dazu gehört auch die Erkenntnis, sich von einer unipolaren Welt zu verabschieden. Die Welt wird kulturell und politisch multipolar sein, oder es kommt zu kriegerischen Auseinandersetzungen, auf die die Anschläge vom 11. September 2001 dann lediglich ein kleiner Vorgeschmack gewesen wären.


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