© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/01 14. September 2001

 
Nation ohne Alternative
Karlheinz Weißmanns aktuelle Streitschrift zum Begriff der Nation im europäischen Vergleich
Oliver Geldszus

In unserer gegenwärtigen Zeit über die Nation nachzudenken bedeutet nahezu zwangsläufig, einen vermeintlich hoffnungslos überkommenen Begriff noch einmal in den Mittelpunkt zu rücken. In der Tat bündeln sich sämtliche Vorbehalte, Verdachtsmomente und Ressentiments gegen die derzeit um sich greifende Globalisierung nirgends treffender als in der Idee des Nationalen. Und verleihen ihr so nachhaltige Lebendigkeit.

Der Göttinger Historiker Karlheinz Weißmann hat seine Überlegungen zu diesem Thema nun in der Edition Antaios mit dem schlichten Titel „Nation?“ vorgelegt. Das Wort allein genügt bereits, das intellektuelle Klima der Republik zu verunsichern. Dessenungeachtet ist die Renaissance des Nationalen allgegenwärtig erkennbar, nicht nur auf den Gebieten der unfreiwillig zusammengeschmiedeten Supranationalstaaten Sowjetunion und Jugoslawien. „Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Nationalismus“, wie der Prager Autor Czeslaw Milosz 1992 in Anlehnung an das „Kommunistische Manifest“ konstatierte. Parallel zur zunehmenden Verflechtung der Staaten und der Aufgabe ihrer Souveränitäten ist die nationale Idee vital; auch in Deutschland und jenseits der jüngsten CDU-Wahlkampfstrategien.

Nach einer ersten Klärung des Begriffs illustriert Weißmann das deutsche Konzept der Nation im Kontrast zum französischen Weg. Diesen hatte der Philosoph Ernest Renan Ende des 19. Jahrhunderts mit den Worten umrissen: „Eine Nation ist eine große Gemeinschaft, begründet im Gefühl der Opfer, die man erbracht hat“. Die Existenz der Nation bezeichnete er als ein „tägliches Plebiszit“, da er ihr die fortwährende Willensanstrengung zum gemeinsamen Leben voraussetzte. Demgegenüber hatte Johann Gottfried Herder einhundert Jahre zuvor einen „Volks“- oder „Nationalgeist“ definiert, der als etwas Naturgegebenes darüber hinaus erst eine Nation stiften könne. Die deutsche Nationalidee leitet sich somit vom Blut ab und trägt damit von vornherein einen exklusiven Charakter. Entgegen dieser romantischen Vorstellung ist das französische Konzept im Sinne der Aufklärung universeller angelegt. Beide Wege sieht Weißmann jedoch durchaus in einer dialektischen, sich gegenseitig befruchtenden Beziehung.

Frankreichs Staatsnation entstand im Grunde durch den auf rationalen Erwägungen fußenden Willen des Monarchen: zunächst war das Staatsgebiet definiert, dann erst und allmählich wuchsen die Bevölkerungsgruppen zu einer „Nation“ zusammen. Zu Recht negiert Weißmann die These, der französische Weg zur nationalen Einheit sei repräsentativ für die westlichen Nationalstaaten überhaupt. Zu unterschiedlich waren hier die jeweiligen Voraussetzungen. Das aufklärerische Prinzip, durch einen gemeinsamen Willen eine Nation zu schaffen, läßt sich nicht zufällig am ehesten in den Vereinigten Staaten von Amerika erkennen.

Spanien etwa oder Italien lassen sich - wie Weißmann richtig anmerkt - mit diesem Modell nicht direkt vergleichen. Darüber hinaus sind sie mit der Analyse des Soziologen Helmuth Plessner als „verspätete Nationen“ zu begreifen, da die Bildung zum Nationalstaat hier erst im 19. Jahrhundert und dann um so hastiger vollzogen wurde - ähnlich wie in Deutschland, der späten Nation par excellence. Einst in Form des Reiches Träger der abendländischen Idee, verlor Deutschland sukzessive den Anschluß an die modernen politischen Entwicklungen hin zum Nationalstaat. Übrig blieb eine romantische Rückwärtsgewandtheit, die die alte Reichsidee verklärte und eher in germanischen Stämmen dachte denn die Nation als eine Willenseinheit betrachtete. Die feudale Zersplitterung des bald nur noch de jure vorhandenen „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ in sich gegenseitig befehdende autonome Gebiete sowie die - nicht zuletzt psychischen - Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges taten ihr übriges, die politische Entwicklung in Deutschland weit hinter die Frankreichs oder Englands zurückzuwerfen. Erst die Romantik entdeckte die Nation neu, entwarf das Bild einer doch mehr oder weniger kontinuierlichen historischen Entwicklung, und Fichte proklamierte in seiner siebenten Rede an die Nation das deutsche „Urvolk“, das sämtliche germanischen Stämme umfassen würde. Doch der nationale Elan der Befreiungskriege reichte nur bis zum Wiener Kongreß, das Ancien régime dachte nicht in nationalen Machtstrukturen wie noch das napoleonische Empire. Erst nachdem sich das aufstrebende deutsche Bürgertum die nationale Idee aus wirtschaftlichen Erwägungen wie auch im politischen Kampf gegen die Hegemonie des Adels auf die Fahnen schrieb, konnte der Nationalstaat 1871 verwirklicht werden. Dieser späte Termin verursachte letztlich jenen hektischen Imperialismus des jungen Kaisers Wilhelm II., dessen unkluge Diplomatie das Reich unnötig in den Weltkrieg riß - und wieder zu einem bis heute andauernden Bruch in der historischen Entwicklung führte. Von der Glorifizierung zur Horrifizierung der eigenen Nation ist es in Deutschland nur ein Schritt.

Die in diesem Zusammenhang gern geäußerte These vom „postnationalen“ Zeitalter illustriert jedoch eher nur die aufklärerische Fortschrittsgläubigkeit ihrer Exponenten. Habermas etwa glaubte, der „ewiggestrige“ Nationalstaat werde zunehmend durch Zuwanderung und transnationale Systeme im Sinne einer neuen multikulturellen Gesellschaft überwunden werden. Tatsächlich aber führt der Druck des multikulturellen Zusammenlebens zu einer Rückbesinnung auf die eigene nationale Identität. So wird auch die immer stärkere Bürokratisierung innerhalb der EU und die Aufgabe der eigenen Währung letztlich zu einer Renaissance des nationalen Gedankens führen. Zunächst wahrscheinlich bei den sozial ärmeren Schichten, doch inwieweit dieser Prozeß gesellschaftlich meinungsbildend sein wird, kann noch nicht abgeschätzt werden. Denn die im Zuge des Wohlstands zu beobachtenden nationalen Auflösungserscheinungen in den westlichen Industrieländern sind lediglich an die Rahmenbedingungen der äußeren Existenz gebunden und beruhen somit nicht zwangsläufig - wie häufig propagiert - auf einer tiefen inneren Überzeugung. Insofern ist Weißmann am Schluß seiner Streitschrift zuzustimmen, daß die emotionale Bindung an die traditionellen Überlieferungen der eigenen Nation letztlich „ohne Alternative“ sei. Eine global gültige Feststellung.

 

Karlheinz Weißmann: Nation? Edition Antaios, Bad Vilbel 2001, 231 Seiten, 34 Mark


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen