© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/01 14. September 2001

 
„Nehmt die deutschen Frauen als Beute“
Reichstag: Abgeordnete möchten die russischen Graffiti verbannt wissen / Wenig Resonanz in der SPD und der FDP / PDS bleibt unbeteiligt
Lennart Lopin

Insgesamt 70 Abgeordnete haben sich einem Gruppenantrag von Johannes Singhammer und dem Parlamentarischen Staatssekretär a. D. Horst Günther angeschlossen. Die beiden Unionsabgeordneten des Bundestages setzen sich für eine Beseitigung der russischen Graffiti an den Wänden des Reichstages ein. Außer 49 Abgeordneten der CDU und 20 Abgeordneten der CSU gehören noch Hans-Michael Goldmann von der FDP und Reinhold Hemker von der SPD zu den Erstunterzeichnern dieser Initiative. Von der PDS konnte sich kein Abgeordneter zur Unterstützung dieses Antrag bewegen lassen.

Die Hinterlassenschaft der sowjetischen Soldaten vom Mai 1945 bilden kommunistische Siegesbekundungen, Verwünschungen oder einfach nur Namenszüge. Letztere machen 95 Prozent aller über den Reichstag verteilten Reste russischer Geschichte aus. Für die Antragsteller haben sie damit in dem bestehenden Umfang keine weitere Existenzberechtigung. Bei der grundlegenden Sanierung des Sitzes des deutschen Parlamentes nach der Verhüllung durch Christo 1995 beließ man einige der Sprüche aus „dokumentarischen Gründen“ an ihrem Platz.

Dietrich Austermann (CDU) hält es für völlig zureichend, eine „ausgewählte Ecke“ nebst Gedenktafel für die russischen Grußbotschaften bereitzustellen und den Reichstag vom Gros der „Fäkalausdrücke“ zu befreien. Immerhin sei dies nicht mehr das Parlament vom Mai 1945, so der 60jährige Unionspolitiker. Vielen der Unterzeichner geht es dabei nicht nur um eine Ästhetisierung des Reichstages, im Zuge dessen Umbaus schon etliche Soldaten-Graffitis verschwanden: Sie sehen es auch als eine Gemütsbelastung, wenn heutige deutsche Abgeordnete von der Kantine bis zum Plenarsaal von sowjetischem Siegestaumel verfolgt werden. Obzwar das Andenken an die Millionen Toten und insbesondere gefallenen Soldaten durch die Reservierung einer dafür eigens eingerichteten Gedenkstelle einiges von dem Graffiti bewahren würde, stößt der Antrag des Reinigungsvorhabens auf heftigen Widerstand. So hegt der russische Botschafter Sergej Krylow Vorbehalte gegenüber dem Antrag. Die Namenswand ist für ihn inoffizielles Mahnmal für die russischen Soldaten, die im Kampf um Berlin fielen. Doch nicht nur der russische Botschafter ist von diesem Vorhaben schockiert. Die Kulturausschußvorsitzende Monika Griefhahn (SPD) sieht in dem Antrag den Versuch einer bewußten „Geschichtsverfälschung“.

Die Aufdeckung der Geschichte verdankt der Reichstag dem britischen Architekten Norman Foster. Die Akzeptanz, mit der deutsche Politiker solch russische Polemiken wie „Die Deutschen prügeln wir immer“ oder „Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der germanischen Frauen, nehmt sie als rechtmäßige Beute“ dem geschichtsbewußten Volke zu offenbaren gedachten, deutete Foster als Kennzeichen einer „äußerst fortschrittlichen und offenen Gesellchaft“. Die britische Presse hingegen hielt diese Offenheit für „masochistisch“ und tadelte die politische Klasse Deutschlands, die in ihren Augen „glücklicher ist, europäisch als deutsch zu sein, und so unabhängig denkt und handelt wie eine Schafherde“. Nachdem anstelle des von Foster vorgeschlagenen preußischen Adlers aus Gewissensgründen die Bonner Henne für den Plenarsaal gewählt wurde, ist fraglich, ob bei solchen Geschichtskrämpfen dem jetzigen Unterfangen überhaupt Erfolg beschieden sein wird.


 
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