© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   38/01 14. September 2001


Der große Schock
Vernichtende Terroranschläge treffen den Westen ins Mark
Michael Wiesberg

Die Welle terroristischer Anschläge, die am Dienstag die USA ganz offensichtlich überrascht hat, ist ohne Beispiel. New York und Washington wurden Ziel mehrerer massiver Terror-Anschläge. Innerhalb von 18 Minuten flogen zwei Flugzeuge offenbar gezielt in die beiden Türme des 412 Meter hohen World Trade Centers. Es ereignete sich eine schwere Explosion; mehrere Stockwerke des Wolkenkratzers brannten. Beide Türme stürzten schließlich in sich zusammen.

Der World Trade Center symbolisiert wie kaum ein anderes Gebäude Macht und Stärke der USA. Es ist damit geradezu prädestiniert für terroristische Anschläge. Bereits am 26. Februar 1993 wurde ein Bombenanschlag auf das World Trade Center verübt. Dabei explodierte ein 540 Kilogramm schwerer Sprengsatz. Sechs Menschen kamen ums Leben, 1.000 wurden verletzt. Die Hauptverantwortlichen für den Anschlag, Ramsi Ahmed Jussef, und der ägyptische Drahtzieher, Scheich Omar Abderrahman, wurden in den USA zu lebenslanger Haft verurteilt.

In den 110 Stockwerken der beiden Türme des World Trade Centers, auch Zwillingstürme genannt, arbeiteten mehr als 50.000 Leute auf rund 900.000 Quadratmetern. Hochgeschwindigkeits-Aufzüge brachten Touristen schnell in den 107. Stock auf das Aussichtsdeck. Mit Rolltreppen ging es dann weiter auf die Open Air-Plattform im 110. Stock. Vom Ausichtssdeck konnten Touristen einen atemberaubenden Blick über ganz New York genießen. Täglich kamen bis zu 200.000 Besucher. Deshalb ist zu befürchten, daß die Anschläge für Tausende von Menschen den Tod brachten.

Doch der World Trade Center war nicht das einzige Zielobjekt. Explosionen ereigneten sich auch im Verteidigungsministerium. Augenzeugenberichten zufolge stürzte ein Flugzeug auf das Gebäude. Andere Quellen sprachen von einer Bombe. Das Pentagon, Sinnbild der militärischen Stärke der USA, stand in Flammen. Doch damit nicht genug: Auch aus dem State Department schlugen Flammen, so daß das Weiße Haus, der Sitz des Präsidenten, das Außenministerium, das Finanzministerium und das US-Parlament evakuiert werden mußten. Bei Pittsburgh kam es zu einem weiteren Flugzeugabsturz. Dabei war am Dienstag nicht klar, ob es aufgrund eines technischen Fehlers abstürzte oder abgeschossen wurde, weil der Pilot offenbar das Flugverbot ignoriert hatte.

Auch auf dem Capitol Hill in Washington ereignete sich eine Explosion, offenbar durch eine Autobombe. Das Schatzamt und das State Departement wurden evakuiert. Die US-Sicherheitsbehörden bereiteten sich auf Besprechungen wie im Falle eines Weltkrieges vor. Die Treffen fanden in Hochsicherheitsbunkern statt. Zur Explosion im Pentagon berichtete eine Augenzeugin: „Als wir in die Stadt fuhren, sahen wir ein Verkehrsflugzeug. Es stürzte in einem 45-Grad-Winkel auf das Pentagon. Ich weiß nicht genau, welchen Teil des Gebäudes es traf. Danach gab es eine riesige Explosion und Rauchwolken.“

Eine weitere Zuspitzung der Lage im Nahen Osten, so der Leitartikel der JUNGEN FREIHEIT vom 17. August, könnte dazu führen, daß demnächst auch israelfreundliche Staaten zu Zielobjekten eines nicht territorial gebundenen Terrorismus werden könnten. Für einen derartigen Terrorismus steht zum Beispiel der Name des saudi-arabischen Topterroristen Osama bin Laden, der die Ereignisse in den palästinensischen Autonomiegebieten mit Interesse beobachten dürfte, bietet sich diese doch geradezu an, gegen die Erzfeinde Israel und USA loszuschlagen. Drei Wochen später spricht vieles dafür, daß sich diese Befürchtung bewahrheitet hat.

US-Präsident Bush sprach in einer ersten Reaktion von einem Terror-Anschlag auf die US-amerikanische Nation und von einer nationalen Katastrophe. Zunächst wurde die palästinensische Organisation „Demokratische Front für die Befreiung Palästinas“ (DFPL) verdächtigt, Drahtzieher der Anschläge zu sein. Deren Chef im Westjordanland, Karim, sowie der Stellvertretende Chef der DFPL, Hawatme, wiesen allerdings die Verantwortung für die Anschläge entschieden zurück. Eine Beteiligung der Organisation von Osama bin Laden ist am späten Dienstagabend nicht mehr ausgeschlossen worden. Die amerikanische Bundespolizei FBI hat Ermittlungen in diese Richtung aufgenommen.

Eines der Flugzeuge, die in das World Trade Center hineingesteuert wurden, ist eine entführte Boeing 767 der United Airlines, die sich auf dem Weg von Boston nach Los Angeles befand. In dem Flugzeug sollen sich 180 Passagiere befunden haben. Inzwischen sind alle Flughäfen der USA gesperrt worden, alle Flugzeuge auf dem Weg von und nach der USA müssen den nächsten Flughafen anfliegen. Auch in Frankfurt/Main wurden alle Flüge in die USA gestoppt.

Für eine umfassende Bewertung der Terroranschläge in den USA ist es sicherlich noch zu früh. Eines aber kann bereits festgestellt werden: Die intensive Diskussion, die in Sicherheitskreisen über das Thema Terrorismus und dessen Bekämpfung geführt wird, hat nicht verhindern können, daß die USA mehr oder weniger unvorbereitet zum Ziel terroristischer Anschläge geworden sind.

In seinen Befürchtungen bestätigt sehen kann sich der Kommandant des US Army War College, Major General Robert H. Scales, der zukünftige Konflikte dadurch gekennzeichnet sieht, daß potentielle Feinde der USA und des Westens komparative Vorteile nicht auf technologischem Gebiet, sondern auf dem Gebiet der kollektiven Psyche zu erringen versuchen werden. Genau dies dürften die Terroristen, die für die Anschläge in den USA verantwortlich zeichnen, im Sinn gehabt haben. Der Mythos der Unverwundbarkeit der USA gehört, dies ist auch ein Fazit der Anschläge, der Vergangenheit an. Das damit verbundene Gefühl der Verunsicherung wird Spuren in der kollektiven Psyche der US-Amerikaner hinterlassen und deren Verhaltensweisen verändern.

Sollte tatsächlich Osama bin Laden der Drahtzieher der Anschläge sein, können die USA den Vorwurf nicht von der Hand weisen, seine Terroraktivitäten maßgeblich befördert zu haben. In diesem Zusammenhang muß insbesondere an die Unterstützung der Mudschaheddin durch die USA in der Zeit der sowjetischen Okkupation Afghanistans erinnert werden. Zu diesen gehörte auch die Gruppe des saudi-arabischen Multimillionärs Osama bin Laden, der den Kampf gegen die sowjetischen Besatzer als heiligen Krieg deutete. Erst die Lieferung von hochmodernem US-Kriegsgerät brachte den Mudschaheddin den Sieg und, als von den USA wohl kaum gewünschte Folge, die radikalislamische Taliban in Afghanistan an die Macht. Bin Ladens Gefolgsleute aus der Zeit des Afghanistankrieges bilden heute den Stamm derjenigen Terroristen, die weltweit aktiv sind. Einer der führenden Terrorismusexperten der USA, Stephen Emerson, schlußfolgerte mit Blick auf bin Laden: Dessen Fähigkeit liege in der Verknüpfung verschiedener Netzwerke. Seine größte Stärke ist die Konsolidierung von unterschiedlichen Interessen, Geld und Ideologie zu einer kritischen Masse. Diese kritische Masse könnte am 11. September ihre verheerenden Folgen gezeitigt haben.

Der Einsatz modernster militärischer Technik in Form von Tomahawk-Marschflugkörpern, mit dem die USA bin Laden und seine Gefolgsleute zur Strecke zu bringen versuchten, führte nicht zum gewünschten Erfolg. Dieser Versuch ist, dies zeigen auch die Versuche der Israelis, vermeintliche Rädelsführer palästinensischer Attentate durch gezielte Mordaktionen auszuschalten, ein untaugliches Mittel, dem Terrorismus Herr zu werden. Diesem kann nur durch eine vorausschauende Politik begegnet werden, die gewaltbereiten Extremisten die Unterstützung entzieht. Die terroristischen Aktivitäten im Nahen Osten haben proportional zur Unnachgiebigkeit Israels zugenommen. Daß die USA diese Unnachgiebigkeit immer wieder mitgetragen haben, ist ihnen jetzt zum Verhängnis geworden.


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