© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/01 07. September 2001

 
Geschichtsmoral auf faulen Grundlagen
Pommern-Zentrum: Hinter dem Streit um die Ostsee-Akademie offenbart sich ein grundlegender Konflikt um die Stellung der Vertriebenen
Doris Neujahr

Zuerst versuchen wir es mit verlegenem Hüsteln, dann mit „Hallo“-Rufen, doch das Küchenpersonal läßt sich nicht an die Theke locken. Nach fünf Minuten haben wir die Botschaft verstanden und gehen. Zwei Bewohnerinnen des Seniorenheims, die stumm in den Tassen rühren und ins Leere blicken, bleiben als einzige Gäste im Selbstbedienungslokal „Griep tau“ („Greif zu“) zurück. Auch im Restaurant „Vineta“ bekommen wir nichts. Die Kellnerin schließt nur kurz die Tür auf und erklärt, daß heute ihr letzter Arbeitstag und das Lokal praktisch schon aufgegeben sei. Gekocht werde nichts mehr. Nebenan ist die Bierbar „Am Bollwerk“ ebenfalls verlassen. Zum Glück ist das Wetter an diesem Sonnabend sonnig und warm. Sonst hätte uns der Besuch im menschenleeren Pommern-Zentrum in Lübeck-Travemünde depressiv gestimmt.

Eine Szenerie, die wie geschaffen ist als Bühnenhintergrund für den monatelangen pommerschen Kulturkampf, der vor einigen Wochen auch das Feuilleton und die Leserbriefspalten der FAZ erreicht hat. Anlaß ist die Entlassung des Leiters der Ostsee-Akademie, Dietmar Albrecht, durch die Pommersche Landsmannschaft im Herbst 2000. Durch die FAZ ist der Konflikt, der sich bisher vor allem im Verbandsorgan Pommersche Zeitung und den Lübecker Nachrichten niederschlug, bundesweit publik geworden.

Um ihn zu verstehen, muß man die Konstruktion des Pommern-Zentrums und der Ostsee-Akademie kennen: Das Pommern-Zentrum wurde 1988 durch den Bundespräsidenten und den Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, dem Patenland der Pommern, an die Landsmannschaft übergeben. Der ausgedehnte Gebäudekomplex beherbergt die Bundesgeschäftsstelle, die Redaktion der Pommerschen Zeitung, den Buchversand sowie zahlreiche Gästewohnungen und Appartements für Senioren. Zuletzt wurden die Versöhnungskirche und ein Gedächtnishain fertiggestellt, wo die Namen der pommerschen Kreise und kreisfreien Städte auf Gedenksteinen vermerkt sind.

Zum publikumswirksamen Herzstück hat sich die Ostsee-Akademie entwickelt, die Tagungen, Seminare, Exkursionen organisiert, Broschüren erstellt, Kontakte zu Referenten und wissenschaftlichen Einrichtungen im In- und Ausland unterhält. Sie befindet sich in der Trägerschaft der Landsmannschaft, wird mit jährlich 1,2 Millionen Mark aber vollständig vom Land und vom Bund finanziert. Beide haben im Kuratorium ein entscheidendes Wort mitzureden. Rund 30.000 Gäste sind bisher zu den Veranstaltungen gekommen, davon 7.000 aus dem osteuropäischen Ausland. Dieser unstrittige Erfolg ist eng mit dem langjährigen Akademieleiter, dem promovierten Sinologen und FDP-Mitglied Dietmar Albrecht, verbunden.

Handfeste Krise innerhalb der Landsmannschaft

Die Landsmannschaft hat Albrechts Entlassung strikt unpolitisch begründet. Von finanziellen Unregelmäßigkeiten ist die Rede, von unterschiedlicher Auslegung gültiger Richtlinien, von Kompetenzüberschreitung, fehlenden Quittungen und von 39.000 Mark Bargeld, die im Koffer zu einer Tagung nach Polen transportiert und ohne Belege ausgegeben wurden. Albrecht sieht darin nur Vorwände und führt für seine Entlassung politische Gründe an. Seine angebliche „Polentümelei“ stehe jenen im Wege, die die Akademie „pommersch durchwirken“ wollten. Tatsache ist, daß keine der Parteien mit völlig offenen Karten spielt.

Albrecht klagte vor dem Arbeitsgericht. Gleichzeitig eröffnete er eine publizistische Front und konnte die Lübecker Nachrichten, die Landesregierung, Sponsoren und Wissenschaftler auf seine Seite bringen. Im November 2000 wurde ein Offener Brief an Bundesinnenminister Schily und die Landesministerin Ute Erdsiek-Rave veröffentlicht, den eine Phalanx renommierter Schriftsteller, Publizisten, Germanisten und Historiker unterzeichnet hatte. Darin heißt es: „Wir verfolgen bestürzt, wie der engstirnige Rückzug einer Landsmannschaft ins politische Abseits die Arbeit der Ostsee-Akademie gefährdet. Wir sind entsetzt, daß erhebliche öffentliche und private, nicht-landsmannschaftliche Zuwendungen verbandspolitischen Interessen dienen sollen und politische Haltungen fördern, die sich an den Rand des politisch Tolerierbaren bewegen.“

Spätestens jetzt war die Kündigung zum Politikum geworden. Das Kuratorium forderte die Landsmannschaft mehrheitlich auf, Albrechts Kündigung zurückzunehmen. Auf der Sitzung ging es hoch her. Die Landtagsabgeordneten von SPD, Grünen, FDP und Südschleswigschen Wählerverband sprachen von „hirnlosem Extremismus“ und „engstirniger Vertriebenenarbeit“ und lehnten es ab, sich über die Beweggründe der Landsmannschaft überhaupt informieren zu lassen. Da die Pommern sich weigerten, die Kündigung zu widerrufen, und Albrecht sogar Hausverbot erteilten, stornierten Bund und Land die Zahlungen. Die Tatsache, daß Albrecht im Januar dieses Jahres vor dem Lübecker Arbeitsgericht einem Vergleich und der Kündigung zustimmte, hat zu keiner Entspannung geführt. In einem FAZ-Leserbrief stellte er die Einigung als Folge eines erpresserischen Winkelzugs der Landsmannschaft dar. Seine Wiedereinsetzung betreibt er weiter.

Am 9. Mai hat der Kieler Landtag die Forderung an die Landsmannschaft erneuert. Die CDU mochte „wegen einiger unterschiedlicher Formulierungen zu keinem gemeinsamen Antrag“ mit der Landtagsmehrheit kommen, war sich aber, so der 42jährige Abgeordnete Thorsten Geißler, mit der „genannten Zielsetzung in diesem Hause einig“.

Diese Entwicklung hat innerhalb der Landsmannschaft zu einer handfesten Krise geführt. Der Landessprecher Wolfgang Müller-Michaelis trat bereits im Sommer 2000, als der Konflikt für die Öffentlichkeit noch unsichtbar war, nach nur einjähriger Amtszeit zurück. Er und seine beiden Vorgänger, darunter der langjährige Pommern-Sprecher Philipp von Bismarck, haben sich mit Albrecht solidarisiert. Ob aus inhaltlicher Übereinstimmung oder in Einschätzung der politischen Kräfteverhältnisse, sei dahingestellt.

Die Situation eskalierte durch einen längeren Artikel in der FAZ vom 12. Mai. Unter dem Titel „Schlachten von gestern, heute geschlagen“ schritt der Autor im Namen der politischen Korrektheit zu Denunziation und Rufmord. Er bezeichnete Albrechts Entlassung als Symptom einer „extremen Rechtswendung“ in der Landsmannschaft und die Pommersche Zeitung als „hart am rechten Rand des gerade noch Erträglichen operierend“. Für Eingeweihte zielte der Angriff vor allem auf die Referats- und Abteilungsleiter im Bundesinnenministerium, die inzwischen den gesperrten Zuschuß für die Akademie freigegeben und der Landsmannschaft damit eine Atempause verschafft hatten. Die PC-Keule sollte sie wieder in die Einheitsfront zurückzwingen. Worüber der Leser nichts erfuhr und was auch die FAZ-Redaktion nicht wußte: Der Autor, Martin Thoemmes, hatte im vergangenen Jahr bei der Landsmannschaft eine ABM-Stelle inne und steht Albrecht nahe.

Pommern wollen Bewahrung ihrer Geschichte

Der Artikel hat eine Reihe interessanter Leserbriefe ausgelöst. Müller-Michaelis kritisierte Albrechts „Geiselnahme“ durch landsmannschaftliche „Fundamentalisten“, als psychologische Ursache aber benannte er die kaltschnäuzige Vertriebenenpolitik der Regierung. Rita Scheller, die dem Konvent Evangelischer Gemeinden aus Pommern vorsteht, kritisierte Albrecht: „Er verstand es nicht, auf die Argumente und Bedenken der nicht akademisch gebildeten Teilnehmer einzugehen.“

Jedenfalls geht der Konflikt über den Bereich persönlicher Animositäten oder finanzieller und arbeitsrechtlicher Regelverstöße hinaus. Thoemmes’ Begründung für die Existenz der Akademie ist in dieser Hinsicht überaus aufschlußreich: „Daß ein Land, das einst Osteuropa mit Krieg und Völkermord überzog, eine Akademie hervorbringt, in der sich Litauer, Esten, Letten, Russen, Ukrainer und Polen über ihre eigene Konfliktgeschichte zu verständigen suchen, grenzt, wenn nicht theologisch, so doch historisch, an ein Wunder.“

Thoemmes betrachtet die Arbeit der Akademie also als eine Art deutscher Sühneleistung. Diese Haltung gilt in der deutschen Politik und Publizistik mittlerweile als die einzig „anständige“. Man kann davon ausgehen, daß Albrecht sie teilt. Er hat anscheinend die Landsmannschaft als ein Auslaufmodell empfunden und daher - auch das ist psychologisch verständlich - auf ein Einvernehmen einfach keinen Wert mehr gelegt.

Die Pommern hingegen erwarten von „ihrer“ Akademie vor allem die Erforschung, Bewahrung, Popularisierung ihrer eigenen Geschichte, die unter dem Trauma der Vertreibung steht. Die Demütigungen, die sie durch die Politik und geschichtsunkundige Meinungsführer permanent erleben, wollen sie sich nicht auch noch unter dem eigenen Dach bieten lassen.

Die prinzipielle Frage drängt sich auf, ob die Erwartungen eines Verbandes überhaupt mit den Notwendigkeiten einer wissenschaftlichen Einrichtung zur Deckung zu bringen sind. Ein Beispiel: Kürzlich erschien im pommerschen Stargard ein EU-finanzierter Museumskatalog in polnisch und deutsch. Über die Vertreibung heißt es darin: „Die Nachkriegsjahre brachten wesentliche Veränderungen in der nationalen Struktur. Die Aussiedlungsaktionen und die späteren Handlungen der Verwaltungsorgane hatten das Ziel einer festen Bindung dieser Gebiete an das Vaterland.“ Mit „Vaterland“ ist nicht Deutschland, sondern Polen gemeint.

Vertriebene müssen darüber in Zorn und Verbitterung geraten. Für eine Akademie stellt sich die Lage anders dar. Wer die frühere polnische Terminologie („urpolnische bzw. wiedergewonnene Gebiete“) kennt, kann ermessen, daß die vom Stargarder Museumsdirektor gewählte Formulierung in Wahrheit einen beträchtlichen Fortschritt darstellt. Er wird registrieren, daß der Verfasser es natürlich besser weiß und taktiert hat, weil er dem polnischen Publikum lange verdrängte Tatsachen nur in homöopathischen Dosen verabreichen kann. Eine wissenschaftliche Institution in Deutschland wird also eher einen positiven Prozeß wahrnehmen und auf Polemik verzichten. Eine Einrichtung der deutschen Vertriebenen jedoch kann und darf solche taktische Rabulistik nicht zur eigenen Geschäftsgrundlage machen. Sie würde sich aus ihrer eigenen Geschichte vertreiben!

Als unerträgliche Hypothek kommt hinzu, daß deutsche Politiker, Publizisten und auch Wissenschaftler dazu neigen, solche Rabulistik als Tatsachen zu verinnerlichen. Im Pommern-Band der ursprünglich um Seriosität bemühten „Deutschen Geschichte im Osten Europas“ aus dem Siedler-Verlag behauptet der Greifswalder Geschichtsprofessor Werner Buchholz (er gehört zu den Unterzeichnern des Offenen Briefes), das bis 1945 deutsche Hinterpommern sei von einem „bunten Völkergemisch“ besiedelt gewesen. Die unausgesprochene Botschaft dieses Unfugs lautet: Die Vertreibung war gar nicht so schlimm! Ist das sarkastische Wort „Polentümelei“ da nicht sogar berechtigt?

Damit ist der Kern des Konflikts angesprochen. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft hat sich an ein Geschichtsbild gewöhnt, in dem Verbrechen ausschließlich durch Deutsche stattgefunden haben, in dem alles andere schlimmstenfalls Häufungen von Vergehen sind, die im Krieg nun mal vorkommen und außerdem durch die Deutschen selber provoziert worden sind. Sie hat sich daran gewöhnt, diese Opferselektion „Versöhnung“ und „Verständigung“ zu nennen. Mit sich selber unversöhnt, pflegt sie einen billigen moralischen Hedonismus, der sich auf keinerlei moralische und intellektuelle Leistungen berufen kann und sich im übrigen auf Kosten Schwächerer austobt.

Die Vertriebenen erregen nicht deshalb Wut, weil sie noch irgendeinen Einfluß besäßen. Das Ärgernis ist ihre pure Anwesenheit. Sie perpetuieren das verdrängte schlechte Gewissen, sie sind der lebende Beweis, daß die aktuelle Geschichtsmoral auf faulen Grundlagen beruht. Deshalb sollen sie still sein, verschwinden, deshalb läßt der böse Ruf „Vertreibt die Vertriebenen“ sich nicht einfach als eine linksextremistische Parole abtun, es ist eine repräsentative Stimme aus dem Unterbewußtsein der gesellschaftlichen Mitte in Deutschland.

Um so verfahrener gestaltet sich die aktuelle Situation um die Ostsee-Akademie. Eine Wiedereinstellung Albrechts ist der Landsmannschaft nach den jüngsten Eskalationen nicht mehr möglich. Sie hat sie auch nicht vor. Andererseits sitzt die schleswig-holsteinische Landesregierung am längeren Hebel. Die Erweiterung der Trägerschaft ist eine beschlossene Sache, danach wird die Landsmannschaft keinen wesentlichen Einfluß auf die Akademie mehr nehmen können. Schlimmer noch, sie wird in ihrem eigenen Pommern-Zentrum zum ungebetenen Gast.

Die Absichten der Landesregierung liegen auf der Hand. In den Kieler Planungen spielen die Pommern in Wahrheit gar keine Rolle mehr, es geht um die Immobilie. Das Areal gehört zu 60 Prozent der Landsmannschaft, in zehn Jahren soll es ganz in ihren Besitz übergehen. Kiel setzt auf Zermürbungstaktik und hofft, daß eine amputierte, gedemütigte Landsmannschaft sich eines Tages entnervt zurückzieht und die Anlage, die als Tagungszentrum und für Klausuren hervorragend geeignet ist, für einen Spottpreis verkauft.

Stralsund bietet Haus zum Nulltarif in der Altstadt an

Die Landsmannschaft sollte die Zeichen der Zeit erkennen und innerlich akzeptieren, daß sie diesen Kampf nicht gewinnen kann, daß es ihr materiell, ideell, politisch und organisatorisch unmöglich ist, die Akademie zu unterhalten. Sie sollte weiterhin realisieren, daß ein Pommern-Zentrum in der schleswig-holsteinischen Diaspora, im schwer erreichbaren Niemandsland zwischen Lübeck und Travemünde, auf verlorenem Posten steht.

Wie zu hören war, hat die pommersche Hansestadt Stralsund der Landsmannschaft mehrfach zum Nulltarif ein attraktives Haus mitten in der wunderschönen Altstadt angeboten. Dort wäre der richtige Platz für ein neues Pommern-Zentrum mit Bibliothek, Gastronomie, Ausstellungs-, Verkaufs- und Versammlungsräumen. In diesem Pommernhaus könnten auch die Bestände und Archive der hinterpommerschen Heimatstuben untergebracht werden, die - wegen der Überalterung der Heimatkreise - an den bisherigen Standorten in Westdeutschland in Schwierigkeiten geraten.

Die Führung der Landsmannschaft sollte schnell und ernsthaft überlegen, ob ein ehrenvoller Rückzugs aus der Akademie und aus Travemünde nicht eine gewichtige Verhandlungsmasse darstellt. Als Gegenleistung für den Immobilien-Verzicht hätten der Bund und die Länder Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern den Umzug nach Stralsund, die Sanierung und Ausstattung des neuen Hauses und einen angemessenen Kapitalstock zu finanzieren. Angesichts des rot-rot-grünen Übergewichts in der Politik erscheint das zwar schwierig, einen Versuch wäre es immerhin wert. Zur Zeit ist „Vineta“ landunter. Seit August hat es einen neuen Pächter, seine Zukunft aber ist offen.

 

Ostsee-Akademie im Pommern-Zentrum, Eu-ropaweg 3, 23570 Lübeck-Travemünde. Tel.: 0 45 02 / 80 32 03, Fax 0 45 02 / 80 32 00 oder im Internet: www.ostseeakademie.de .


 
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